eine Pause und wartete auf eine Reaktion.
Nicole unterbrach kurz die Sauggeräusche ihres Strohhalms. „Ja, das sehen viele so. Auch in den Foren. Das Medikament alleine, voreilig und ohne Begleittherapien eingesetzt, ist wirklich nicht in Ordnung. Da sind die alten Hasen in unserem Forum sich ausnahmsweise einmal fast alle einig. Es sollten nur Profis die Diagnose stellen und das Medikament verordnen dürfen. Und nur dann, wenn nichts anderes ausreichende Besserung gebracht hat oder bringen würde. Ich glaube, die Kinder und die Eltern sollten nicht dafür an den Pranger gestellt werden, wenn sie glauben es nehmen zu müssen. Das ist nicht fair. Niemand musste das durchmachen, was die meisten hinter sich haben und täglich mitmachen müssen. Und das gilt fast immer für die betroffenen Kinder und ihre Eltern. Lehrer und Erzieherinnen kriegen natürlich auch ihren Teil ab. Die kriegen dafür wenigstens Schmerzensgeld und können zwischendurch nach Hause.“
„Genau, deshalb wollte ich dich kennenlernen. Vor dem Lesen deiner Nachricht im Forum war ich mir sicher, der medikamentöse Weg sei der falsche, und dass wir Erwachsenen es uns damit zu einfach machen. Wie siehst du das?“
„Es gibt schon solche und solche. Einige mögen ja vielleicht ohne viel nachzudenken und aus Bequemlichkeit zur schnellen Pille greifen, wenn sie ihnen angeboten wird. Im Forum lernst du jedoch auch Eltern kennen, die es sich mit der Entscheidung nicht einfach gemacht haben. Doch woher sollen sie zuverlässige Informationen bekommen? Selbst die Ärzte sind da zumeist nur wenig oder gar nicht informiert. Ihre Informationen werden nicht selten durch die Pharmafirmen bestimmt und geleitet. Therapeuten haben dann in der Folge oft keine Ahnung von ADHS. Lange gab es in Deutschland ein Gesetz, nach dem die Pharmaindustrie für verschreibungspflichtige Medikamente nur in Fachkreisen werben durfte. Denen traute man aufgrund ihrer Ausbildung offensichtlich eine adäquate Meinungsbildung, trotz Werbung, zu. Vor etwa zwanzig Jahren wurde das nach und nach im Rahmen der Globalisierung weltweit angepasst. Die jetzt Information genannte Werbung, für den Verbraucher, wurde erlaubt. Wo sollen sich die ratlosen und völlig überforderten Eltern denn einen neutralen Rat herholen? Deshalb haben wir damals unser Forum mit einigen Betroffenen gegründet. Und einige probieren dann eben mal schneller die Pille aus, ohne allzu viel sonst an Therapien ausprobiert zu haben. Das finden die meisten unserer Gruppe nicht gut. Oft machen das eher die Uninformierten, die einfach nur schnell ihre Ruhe haben wollen. Koste es, was es wolle. Deshalb versuchen wir als Gruppe zu wachsen und zu informieren.“
„Wie ist denn deine Erfahrung mit Infantocalm? Bringt es den versprochenen Effekt?“ Leon wartete nun gespannt auf ihre Antwort.
„Die Patentlösung ist das sicher noch nicht. Sonst wären nicht alle in unserem Forum weiter auf der Suche nach Ratschlägen, neuen Therapien und so weiter. In Kombination mit einer störungsorientierten Verhaltenstherapie, Biofeedback, Selbsthilfegruppe für Eltern und Kind und anderen zusätzlichen Ansätzen ist es meistens deutlich besser als vorher.“
„Was heißt denn störungsorientierte Verhaltenstherapie und Biofeedback?“, wollte Leon wissen.
„Nun, bei der Verhaltenstherapie sollen Kinder die unerwünschten Verhaltensweisen abbauen und gezielt neue erlernen. Es gibt da Programme, die durch Studien wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit überprüft und dabei ständig verbessert werden. Beim Biofeedback erleichtern Atemtraining und Muskelentspannung bei Kindern, sich zu sammeln. Sie machen dabei die Erfahrung, wie sie selber etwas in die richtige Richtung steuern können.“
„Wow, du kennst dich ja wirklich spitzenmäßig auf dem Gebiet aus. Klingen sehr vielversprechend die Ansätze“, meinte Leon. „Und es gibt offensichtlich Alternativen in der Naturheilkunde, wie ich gelesen habe.“
„Ja, bei den Kindern aus unserer Gruppe haben die Algen, Diäten, Nahrungsergänzungen und Ähnliches bei den meisten nicht den tollen vorausgesagten Effekt gezeigt. Viele von denen wollen offensichtlich nur ihr Geld damit machen, nutzen die Verzweiflung und die Ängste der Eltern aus.“
„Die Geschäftemacher gibt es leider in jedem Bereich, wie es scheint.“ Leon schaute betrübt und schüttelte mit dem Kopf.
„Außerdem wird diskutiert, ob überhaupt ADHS als Diagnose vorlag, wenn Algen oder Ernährung die Symptome beseitigen. Weißt du, Mangelernährung kann nämlich sehr ähnliche Symptome, wie die von ADHS, hervorrufen. Das war bei einem Kind aus unserer Gruppe so. Da haben die Algen dann wirklich Wunder gewirkt. Natürlich machten es dann alle anderen nach. Und nichts passierte. Du siehst, es ist echt kompliziert und nichts ist eigentlich klar. Vorwürfe gegen die eine oder andere Seite führen da wohl kaum weiter.“
„Ist es denn ein Klischee, die alleinerziehende Mama mit schlechter finanzieller Ausstattung, daher berufstätig, mit wenig Zeit für die Kinder, gestresst und so weiter?“ Leon hatte ein wenig Angst, Nicole damit provoziert zu haben. Dies unterstrich auch sein fast ängstlicher, leiser Tonfall bei der Frage.
„Leider hast du da nicht ganz unrecht. Viele Scheidungskinder, Kinder, wo beide aus finanziellen Gründen arbeiten gehen müssen, scheinen häufiger an ADHS zu leiden. Ob es uns nun gefällt oder nicht, es scheint ein Problem unserer Gesellschaft und deren Entwicklungen zu sein. Warum sollte es sonst immer häufiger vorkommen? Oder ist die Scheu vor Psychiatern einfach nur weniger geworden und daher wird es häufiger entdeckt? Das behaupten einige. Sie sagen, die Zahlen wären gleich geblieben. Schwer zu sagen.“ Nicole schaute etwas ratlos.
„Nicht zu vergessen ist sicher außerdem, dass von unseren Kindern immer früher immer mehr abverlangt wird. Sie haben den eigenen Stress und erleben den ihrer Eltern, eigentlich sogar den aller sie umgebenden Erwachsenen ebenfalls mit. Eine einfache Entwicklung in Ruhe und Geborgenheit, eine echte Kindheit also, haben die wenigsten. Oder sehe ich das falsch?“, fragte Leon und unterstrich dies durch seine fragende Körperhaltung.
„Nein, das hast du gut und sicher richtig formuliert. Das würden die meisten aus unserem Forum unterschreiben. Nur, was willst du dagegen tun? Es ist die heutige Realität. Leider, muss ich sagen.“
Leon schaute sie interessiert an. Das ermunterte sie weiter auszuholen.
„Ich war kürzlich in einem Vortrag. Ein Hirnforscher sagte, lernen könnten wir alle nur, wenn wir etwas mit Begeisterung machen, ohne Konkurrenz, ohne Angst und Druck. Doch sehen so unsere Kindergärten und Schulen heute aus? Mathematische Frühförderung, musikalische Früherziehung, Wettbewerbe wo man hinschaut und so weiter und so weiter. Noten, Konkurrenz und Druck. Es heißt sogar, die Entwicklung zum Burn-out gehe schon von der Grundschule in Richtung Kindergarten. Stell dir das einmal vor, es gibt Kindergartenkinder, die schon ausgebrannt sind, unter dem Burn-out-Syndrom leiden. Schlimm, oder?“
„Eigentlich dürften die noch gar nicht ausgebrannt sein, sondern müssten gespielt haben“, antwortete Leon, sah Nicole fragend an und hoffte auf ihre Zustimmung.
„Was hältst du davon, wenn du zu unserem nächsten Forentreffen kommst? Dann hättest du die Möglichkeit, viele Betroffene kennenzulernen. Und du hast Glück, übermorgen wollen wir uns abends um 19:00 Uhr treffen.“
„Klingt gut. Wo muss ich hinkommen?“, fragte Leon.
„Wir treffen uns im Gemeindehaus der evangelischen Pfarrgemeinde in der Goldgrube.“
„Abgemacht. Danke. Ich müsste los. Danke für deine Zeit und die wertvollen Insiderinformationen.“ Leon verabschiedete sich.
„Gerne, Leon. Bis übermorgen. Freut mich.“
Leon ging zu seinem Wagen, fuhr in die Redaktion, um seine neuen Eindrücke aufzuschreiben und wollte dann Feierabend machen.
Zur gleichen Zeit in der Konzernzentrale von Provita, München
„Wir müssen die nächste Welle des Projektes Zappelmaus planen. Heute um 14:00 Uhr wird in einer Vorstandssitzung darüber entschieden. Es geht um die Freigabe hoher Summen. Vorher sollten wir allerdings unsere Vorschläge für die Sitzung noch einmal abstimmen. Wollen wir uns heute beim Mittagessen kurz darüber unterhalten? Wir hatten bisher keine Gelegenheit unsere Ideen auszutauschen.“
Der 50-jährige Herr mit Glatze, Hornbrille und im dunklen Anzug mit Krawatte sprach die Worte in