Hans-Jürgen Setzer

Der meergrüne Tod


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Art zu und eine weitere Herrenstimme, im mittleren Lebensalter, tat das Gleiche, jedoch im Tonfall eher unterwürfig.

      „Fein, dann sehen wir uns um 12:00 Uhr in der Kantine. Wir nehmen den Besprechungstisch am Fenster. Ich lasse ihn reservieren. Bis nachher.“

      Professor Daniel Meggle machte ein zufriedenes Gesicht. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Seine Abteilung Absatzinnovationen brachte dem Unternehmen seit über zehn Jahren explodierende Umsatzzahlen, ihm damit immer weitere Vergünstigungen und weitgehend freie Hand. Er wusste jedoch, dass ein Umsatzeinbruch jederzeit sein eigenes Ende einläuten könnte. Es hieß also, wachsam zu sein und immer neue Ideen zu entwickeln.

      Mit einem Grinsen und voller Genugtuung betrachtete er die Bilder von all den Urlauben, die er als Anerkennung seiner Leistungen erhalten hatte und sich hinter ihm an der Wand befanden. Für jede Absatzsteigerung, um weitere zehn Millionen Umsatzeinheiten pro Jahr, erhielt er mit seinem Team einen kostenlosen Traumurlaub von zwei Wochen. Das sollte Kreativität und Zusammengehörigkeitsgefühl fördern und die Leistungen positiv erhöhen. Somit hatten sich einige schöne Trips ergeben, erkennbar an seiner Bildergalerie. Natürlich kamen sich die Teammitglieder bei solchen ausgelassenen Events oft menschlich und nicht zuletzt auch schon mal körperlich näher. Mal mehr, mal weniger freiwillig. Jedenfalls, was die weiblichen Mitreisenden betraf. Er betrachtete ein Foto mit einer drallen Blondine, mit der er sich mehr als glänzend zu verstehen schien. Doktor Tatjana Meissner, auf dem Bild als Urlaubstrophäe in seinem Arm, hatte inzwischen andere, höherwertigere Aufgaben vom Vorstand erhalten. Sie sahen sich kaum noch. Geschadet hatte es ihr also nicht, sich Professor Meggle gegenüber nicht abweisend gezeigt zu haben, obwohl er mindestens ihr Vater hätte sein können.

      „Mal sehen, wie es mit der Neuen läuft“, dachte er. Kurz schaute er noch einmal die Personalakte durch. Marie Köhler, längeres, gewelltes rötliches Haar. Auf dem Foto in der Akte zeigte sie ein gewinnendes Lächeln. Top-Abschlüsse. Sowohl einen Doktorgrad in Biochemie als auch einen Master of Business Administration von der Harvard-University. Gerade 35 Jahre alt geworden. „Schlau und bildhübsch, eine gefährliche Kombination, aber eine vielseitig nutzbare. Hoffentlich“, dachte Professor Meggle, Team- und Abteilungsleiter für Absatzinnovationen. Er brauchte frischen Wind und neue Ideen. Für ihn war es ein weiteres wichtiges Kriterium, dass sie, laut ihrer Akte, erfüllte: ledig und ohne Kind.

      Doktor Marie Köhler kam fünf Minuten vor zwölf, schaute sich im Speisesaal um. Ihr Chef und ihr Kollege waren noch nicht anwesend. Sie stellte ihre Aktentasche am reservierten Besprechungstisch ab und schaute schon einmal nach, was heute auf dem Speiseplan stand. „Königsberger Klopse oder Bratwurst mit Kartoffelpüree und Rotkraut“, las Marie auf der Tafel hinter der Essensausgabe. „Hm, alles zu schwer und zu fett“, dachte sie.

      „Na, schon gewählt, Frau Kollegin?“, hörte sie eine laute Stimme hinter sich sagen.

      „Ah, Herr Professor Meggle, schön Sie zu sehen. Ich glaube, für mich darf es heute ein leichter, frischer Salat sein.“

      „Frau Doktor Köhler, immer auf die Linie bedacht. Ich werde mir die Klopse gönnen, in der Hoffnung keine eigenen Klopse zu machen. Man gönnt sich ja sonst nichts und bei meiner Figur ist sowieso nichts mehr zu retten. Kommen Sie, wir holen schon mal unser Essen. Herrn Rathke habe ich eben gesehen. Er müsste also gleich zu uns stoßen. Sie kennen sich bereits?“

      „Ja, wir haben uns auf einem Kongress kennengelernt, letztes Jahr in Oregon“, antwortete sie und bestellte sich eine kleine Salatplatte.

      „Ah, fein. Dann können wir ja gleich ganz schnell zum Arbeiten übergehen. Stärken wir uns aber erst ein wenig. Apropos Kongress. Wir sehen uns ja bald schon wieder auf dem Hirnforscherkongress in Berlin, übermorgen. Da findet sich bestimmt auch nebenher Gelegenheit, uns besser kennenzulernen. Und mit Ihrem bisherigen Chef habe ich mich geeinigt, dass Sie in einer Woche endgültig hier in die Zentrale wechseln werden. Er braucht Sie noch kurz, wenigstens halbtags, für die Übergabe an Ihre Nachfolgerin“, sagte er. „Er jammert Ihnen vielleicht hinterher, kann ich Ihnen sagen. Da scheinen Sie ja einen sehr guten, bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Glückwunsch.“

      Professor Meggle zahlte an der Kasse für sie beide.

      Sie setzten sich an den Tisch und machten neben dem Essen ein wenig Small Talk.

      „Ah, Herr Rathke. Wir haben bereits ohne Sie angefangen. Wir fielen fast um vor Hunger“, sagte der Professor lachend. „Wie ich gehört habe, kennen Sie beide sich ja schon. Das vereinfacht unser kleines Geschäftsessen.“

      Nach dem Essen tauschten sie die wichtigsten Informationen für die kommende Besprechung aus. Allerdings bedeutete dies für heute, dass Professor Meggle die beiden bat, sich ganz herauszuhalten, einfach ihn reden zu lassen. Für diese Vorstandssitzung wäre der exakt auf den Punkt getroffene richtige Tonfall wichtig, weil es um viele Millionen an Mittelzuweisungen für die Abteilung gehe, und er die Vorlieben der Vorstände seit Jahren kenne. „Sie bekommen alle Ihre Chance, um sich zu profilieren. Keine Angst“, sagte Meggle. Damit war den beiden klar, dass sie heute nur als schmückendes Beiwerk von Professor Meggle gebraucht werden würden, quasi als Tischdekoration.

      Vorstandssitzungssaal Provita, 14:00 Uhr

      „Herr Vorsitzender, liebe Vorstandsmitglieder, meine Damen und Herren, wie Sie wissen, ist der Umsatz von Infantocalm in den letzten fünf Jahren um fünfhundert Prozent gestiegen. Die Produktionskosten konnten zudem durch Auslagerung nach China noch einmal fast halbiert werden. Diese Zahlen kennen Sie, wie ich annehme, bestimmt alle.“

      Einige der Damen und Herren blätterten in ihren Unterlagen, überflogen die Zahlenkolonnen und nickten anerkennend.

      „Unsere bisherigen Strategien haben sich also ohne jeden Zweifel bewährt. Insbesondere der Abteilung Absatzinnovation ist es zu verdanken, dass bei konstanter Anzahl an Erkrankungen der Umsatz pro Jahr mehr als verdoppelt werden konnte.“

      „Das klingt ja unglaublich, Herr Professor Meggle. Wie haben Sie das nur wieder hingekriegt?“, fragte der älteste Herr in der Runde, in der Mitte sitzend.

      „Nun, Herr Vorsitzender, unser letzter strategischer Schachzug bestand darin, die Behandlungsalternativen auf fast allen Gebieten in den eigenen Konzern zu holen. Wir haben jetzt das homöopathische Gebiet, den Algensektor und sogar eine Softwarefirma, die ein Trainingsprogramm bei ADHS als Marktführer eingeführt hat. Selbst die Kliniken und Fachambulanzen gehören zum Konzern.“

      „Respekt, Herr Professor. ADHS und Provita sind also überall eng verknüpft. Aber erzählen Sie nur weiter …“ Der Vorstandsvorsitzende zeigte sich bei bester Laune und auch die anderen Damen und Herren sahen offensichtlich keine Veranlassung an den Schilderungen zu zweifeln. Das Geld in dieser Abteilung schien Ihnen offensichtlich gut investiert und dies lockerte die Atmosphäre auf eine angenehme Art und Weise.

      „Wir bestimmen somit maßgeblich die Meinung in den gängigen Internetforen zum Thema ADHS, verdeckt natürlich.“ Professor Meggle lächelte in die Runde und erhielt zustimmende Signale aus der Zuhörerschaft.

      „Wir können hier sogar ganz gezielt und punktuell über die Platzierung von Meinungen und Informationen im Netz eine Nachfrage in dem einen oder anderen Gebiet forcieren oder bremsen.“

      „Herr Professor, das ist ja teuflisch … teuflisch genial, wenn ich das so sagen darf.“ Die Stimme des Vorstandsvorsitzenden überschlug sich vor Begeisterung.

      „Somit können wir flexibel auf die Rohmaterialpreise reagieren. Es lässt sich durch Verfeinerung der Strategien exakt der notwendige Lagerbestand errechnen. Das hilft dann wiederum Kosten zu sparen und Umsätze zu steuern.“ Seine Stimme wurde immer langsamer, betonter und leiser. Dies unterstrich die Brisanz seiner Worte und im Raum hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Niemand getraute sich mehr, ihn zu unterbrechen. Wie gelähmt saß der Vorstand des riesigen Konzerns und lauschte den Worten eines ihrer Top-Strategen.

      „Unsere Abteilung plant, die aktuellen Entwicklungen im ADHS-Therapieangebot noch weitergehend zu integrieren und neue Märkte zu erschließen. Daher beantrage ich die Zusage der veranschlagten 27