Reiner Kotulla

Dagebliebene


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Flucht, Stacheldraht und Stasi reduziert wird. Unter dem Vorwand der „Geschichtsaufarbeitung“ wird die DDR systematisch delegitimiert, kriminalisiert und denunziert.

      Hinzu kommt der ständige Gebrauch diffamierender Begriffe wie „SED-Diktatur“ und „Unrechtsstaat“.

      In vielen Gesprächen mit „geborenen“ DDR-Bürgern habe ich erfahren, dass es in der DDR auch ein Leben neben den oben genannten Faktoren gab.

      Dieses Leben zu beschreiben, bleibt Autoren vorbehalten, die vorurteilsfrei das Wirken der „Dagebliebenen“ aufzeichnen.

      Meine Geschichtserzählungen sollen der Aufklärung unter der folgenden Fragestellung dienen:

      Wer? Warum? Gegen wen?

      Der Gang der Geschichte war immer eine Abfolge von Aktion und Reaktion. Und da wir Menschen unser Leben immer unter konkreten Umständen gestalten, und weil die vorgefundenen Umstände nicht Resultat eigenen Handelns sind, sondern Erbe, kann man die Vergangenheit nur in ihrer Entwicklung und im jeweiligen Kontext betrachten.

      Die Erzählungen sollen Geschichte anschaulich machen, konkret und verständlich.

      Sie arbeiten mit allen epischen Mitteln, auch denen der Perspektive und können damit den Lesern den Stoff besonders nahebringen, indem sie Gefühle wecken, laden sie zur Identifikation ein und stiften Kontakte zwischen Lesern und Akteuren.

      Historische Erzählungen erhöhen die Vorstellungskraft und das Interesse an Geschichte. Sie können das vorhandene Geschichtsbild erweitern und festigen.

      Sie haben vor allem dort ihre Berechtigung, wo es darauf ankommt, dem Leser Vergangenes, Alltägliches lebendig und gefühlsbetont darzustellen. Sie ermöglichen ihm echte Anteil- und Parteinahme sowie Wertungen und Schlussfolgerungen.

      Ich versuche, mit meinen Kurzgeschichten Kräfte zu beschreiben, die von Anbeginn versucht haben, diesem deutschen Staat durch Sabotage, Spionage, Diversion, Abwerbung, Hetze, mediale Manipulation und andere Mittel zu schaden. Sie wollten nicht zulassen, dass sich in der Deutschen Demokratischen Republik eine Gesellschaft entwickelt, die auf Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verzichtete. Die getreu der Prämisse, von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen, handelte.

      Zum Verständnis der jeweiligen historischen Situation wird jeder Kurzgeschichte ein Text „Zur Sache“ nachgestellt.

      Diese Vorgehensweise folgt dem Forschungsansatz „vom Einzelnen zum Allgemeinen“. Indem subjektive Erlebnisse in einen historischen Kontext (Text „Zur Sache“) gestellt werden, wird vermieden, dass sie als Einzelerscheinungen abgetan werden können, die keinen Bezug zur allgemeingesellschaftlichen Realität haben.

       Prolog

       Wanderer kommst du nach B (1945)

      Ein wenig schwerfällig, denn er war in die Jahre gekommen, bewegte sich Wasja durch die Straßen der zerstörten Stadt, dem Ziel seiner Reise. Lange hatte seine Kindheit nicht gedauert, da musste er schon die Heimat verlassen.

      Eiskalt war es im Wald, im Osten des riesigen Landes, wo er aufgewachsen war. Und das meist draußen auf eisigem Boden. Seine Mutter, Soja, war eigentlich noch viel zu jung für diese Aufgabe gewesen. Doch danach hatte keiner gefragt.

      Bald nachdem sie ein letztes Mal Hand an ihn gelegt hatte, war sie den anderen in die Wälder gefolgt, um seinesgleichen, die auf Schienen hierhergebracht werden sollten, zu vernichten.

      Weil sie nicht wusste, wohin es ihn verschlagen würde, hatte sie ihm eine Nachricht beigelegt. „Sorge dafür unbekannter Genosse“, hatte sie geschrieben, „dass Wasja überlebt.“

      Lang und entbehrungsreich war sein Weg gewesen, und nun war Wasja in die Jahre gekommen. Mühsam bewegte er sich jetzt auf der Straße, die einmal den Namen Stalinallee tragen sollte. Gähnende Ruinen rechts und links, das Feuer erloschen, der Gestank nach Verbranntem erhalten geblieben.

      Manchmal wirkten die Restfassaden wie eine Theaterkulisse: ein Schlafzimmer, das Ehebett und darüber an der Wand das Bild mit den pausbackigen Engelchen, eine Küche, von der die Ecke mit dem Kochherd stehen geblieben war oder ein Wohnzimmerrest mit Sofagarnitur und darüber das Bild des Führers.

      Doch Wasja war nicht allein, eine ebenso alte Genossin folgte ihm in gemessenem Abstand. In der Steppe hatten sie sich kennen gelernt. Nina und er sollten am Ziel zusammenbleiben, wenn auch wiederum auf Abstand. Stolz und Achtung gebietend, würden sie einer erneut feindlichen Umwelt trotzen.

      Sie erreichten die Straße, von der der Fackelspuk ausgegangen war. Respektvoll umfuhren sie das Tor, durch das 45 Jahre später ein neuer Herr, ebenso gemessenen Schrittes gehend, der immerhin von Befreiung sprechen würde. Und genau deshalb hatten Nina und Wasja die Strapazen auf sich genommen.

      Bald dröhnten und schepperten die beiden hintereinander her – die letzten Meter – bis sie schließlich nebeneinander zum Stehen kamen, darauf wartend, den letzten Schritt zu tun, damit sie endlich Ruhe finden konnten.

      So entbehrungsreich ihr Weg auch gewesen war, erinnerten sich beide gerne daran, wie sie die Banditen das Fürchten gelehrt hatten. Natürlich nicht alleine, viele waren sie gewesen, die unter dem Kommando des Marschalls am 8. Mai 1945 Berlin befreiten.

      Und Wanderer, wenn du nach Berlin kommst, vergiss nicht, den beiden Panzern vom Typ T34/76 im Tiergarten, denen man die Namen Nina und Wasja hätte geben können, einen Besuch abzustatten. Gedenke ihrer Kommandanten, Iwan und Pawel, der Fahrer Viktor und Boris, der Ladeschützen Oleg und Dimitrij, der MG-Schützen Andrej und Artjom und der Funker Michail und Igor.

      Und bitte, lass dich nicht abermals dazu verführen, dieses riesige Land im Osten erneut erobern zu wollen! Denke an das Schicksal deiner Vorväter, die bei Stalingrad und anderswo in die Flucht geschlagen wurden, unter anderem von Nina, Wasja und seiner Mutter Soja, der Partisanin und Dreherin.

      

      An Ereignisse im vierten Lebensjahr, so sagt man, erinnert sich in der Regel ein erwachsener Mensch. Das war im April 1945. Meine Mutter, den Kinderwagen, in dem das Notwendigste verpackt war, vor sich herschiebend, mich an der Hand, auf dem Weg in die Prinz-Adalbert-Straße von Berlin-Karlshorst.

      Daran erinnere ich mich heute. Aus einem Fenster des vierstöckigen Hauses schlugen Flammen, ein unauslöschbares Bild.

      „Das war dein Kinderzimmer“, sagte meine Mutter. Eine der berüchtigten Phosphorbrandbomben, in der Form einem Bleistift ähnlich, war vom Dach bis in den Keller geschlagen und hatte unterwegs alles verbrannt.

      Über das danach berichtete meine Mutter später: „Deine Tante Edith und ich, wir hielten im Krieg und danach vor allen Dingen in der Sorge um dich, zusammen. Während ich meinem Dienst bei der Stadtverwaltung nachkam, kümmerte sich Edith vorwiegend um dich. Du bist für sie immer wie ein Sohn gewesen, was mich oft eifersüchtig machte, doch mein Glaube an den Endsieg ließ mich bis zuletzt meiner Dienstpflicht nachkommen. Oftmals lief ich auf dem Weg zu meiner Dienststelle oder nach Hause durch brennende Straßen, rettete mich ständig in Sekundenbruchteilen vor herabstürzenden Häuserwänden. Und dann, Ende April 45, wurde auch das Dienstgebäude ein Opfer der Brandbomben und ich war meiner Verantwortung entbunden.

      Edith und ich begaben uns mit dir auf die Suche nach einer Unterkunft. Abwechselnd schoben wir den Kinderwagen, den du zum Glück kaum noch brauchtest, vor uns her. In ihm hatten wir unsere ganze Habe, zum Beispiel die uns damals noch wichtig erscheinenden Papiere und Dokumente untergebracht.

      Gähnende Ruinen rechts und links der Frankfurter Allee, das Feuer erloschen,