Reiner Kotulla

Dagebliebene


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junge Frau nahm ihren ganzen Mut zusammen, verstaute das Fernglas wieder in der Truhe. Die Hand schon auf der Türklinke, zögerte sie, doch ihre Neugier überwog die Angst.

      Die Soldaten sahen Waltraud nicht, als sie vor die Laubentür trat, also rief sie laut „Hallo!“

      Der mit der großen Mütze, ein Leutnant, wandte seinen Kopf, blickte zu ihr hin und bedeutete den anderen zu halten. Auf halbem Wege trafen sie sich. Nacheinander blickte sie den drei Soldaten ins Gesicht. Auf den ersten Blick konnte sie darin nichts Tierisches entdecken. Deshalb nahm sie all ihren Mut zusammen, sah dem mit der großen runden Mütze in die Augen, stotterte ein wenig als sie die drei einlud.

      Dann saßen sie um den Tisch auf der kleinen Wiese vor der Laube, tranken vom Kaffeeersatz, den man hier Muckefuck nannte, sprachen vom Wetter und sonst Wichtigem. Die beiden Postengänger verstanden kein Deutsch, sodass der Leutnant alles übersetzen musste.

      Zuerst blickte Waltraud von einem zum anderen, während sie sprach, bis sie schließlich nur noch dem Leutnant in die Augen schaute. Leicht schräg gestellt, registrierte sie, dass sie ihn fragte, woher er käme. „Kasachstan, genau genommen aus der kasachischen Sowjetrepublik“, seine Antwort und sie weiter fragte, wo er gelernt hatte, so gut Deutsch zu sprechen. Da erzählte er von seinen Eltern, die schon in den 1930 er Jahren von der Wolga in den Osten gezogen waren. Er war zweisprachig aufgewachsen und hatte sich direkt nach dem Überfall der Hitler-Faschisten auf die Sowjetunion freiwillig zum Militär gemeldet.

      „Überfall“, ging es Waltraud kurz durch den Kopf, Russlandfeldzug nannte sie es bisher.

      „Darf ich fragen, wie sie heißen, gnädiges Fräulein?“

      Da musste Waltraud lachen.

      „Warum lachen Sie?“

      „Gnädiges Fräulein hat mich noch nie jemand genannt. Ich heiße Waltraud und sie?“

      „Wladimir Neubauer.“

      „Sonst waren es immer nur zwei Soldaten, die hier vorbeikamen?“

      „Nun, es hat Sabotagefälle an der Telegrafenleitung gegeben. Da müssen wir nachforschen.“

      Einen Moment zögerte Wladimir, bevor er weitersprach.

      „Ihnen ist da wohl nichts aufgefallen?“

      Was meinte er wohl mit dieser Frage? Dachte er etwa sie oder jemand aus der Siedlung würden da etwas kaputtmachen? Und wenn, sie würde doch keinen Landsmann verraten. Das sagte sie ihm nicht, verneinte lediglich seine Frage.

      „Na dann“, sagte Wladimir, bedankte sich für den Muckefuck auch im Namen seiner Kameraden.

      Waltraud blickte den dreien hinterher. Ein wenig enttäuscht war sie. Wladimir, ein schöner Name dachte sie.

      Tags darauf waren es wieder nur zwei Soldaten, und kurz überlegte Waltraud, sie nach Wladimir zu fragen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder.

      Dann, drei Tage später, hielt ein Geländewagen vor dem Gartentor. Waltraud saß vor der Laube, hatte eine Pause bei der Gartenarbeit eingelegt. Sie wusste sofort, das konnte nur Wladimir sein. Sie sprang auf, rannte los, beherrschte sich und tat gelassen.

      „Holdes Fräulein, darf ich es wagen?“

      „Wie bitte?“ Ihre verblüffte Reaktion.

      „Das sagt Heinrich zu Gretchen, weil er sie kennenlernen will.“

      Eher auf Verdacht reagierte Waltraud: „Goethes Faust, ich vermute?“

      Wladimir lachte dieses offene jungenhafte lachen, das sie schon an ihm kannte.

      „Im Ernst, ich möchte mich für die Einladung revanchieren und sie nun meinerseits zum Kaffee einladen.“

      Waltraud freute sich, dass sie beinahe sofort die Gartentür geöffnet hätte. Doch sie besann sich.

      „Ich kann doch so nicht mit ihnen gehen“, sagte sie an sich hinunterblickend.

      „Ich kann warten, da sie zugesagt haben.“

      Frauen, denkt Wladimir, da Waltraud 10 Minuten später immer noch nicht zurück war. Als sie dann verhaltenen Schrittes den Gartenweg herunterkam, schaute er ungläubig. Waltraud trug ein geblümtes Sommerkleid zu einfachen Sandaletten, an den nackten Füßen. Das Band entfernt, viel ihr das lange braune Haar bis auf die Schultern.

      „Verweile doch…“, begann Wladimir.

      „Schon gut, Herr Soldat, genug des großen deutschen Dichters. Man sagt ja, dass russische“, sie stockte, „das sowjetische Soldaten einiges an deutscher Kultur kennen.“

      Inzwischen waren sie in Karlshorst, dem Sitz der sowjetischen Militäradministration angekommen. Waltraud hatte davon gehört, auch vom „Russen Magazin“, wie der Laden genannt wurde. Schließlich führte Wladimir sie ins Offizierskasino. Bei Kaffee und Kuchen und Gesprächen über ihr bisheriges Leben verging der Nachmittag und es sollte nicht der letzte gewesen sein.

      Die nächsten Tage brachten für Waltraud eine derartige Veränderung ihres Lebens, derer sie sich erst viel später bewusst wurde. Ernst, mit dem sie die große Liebe erlebt hatte, war in Russland gefallen, als ein Held, wie es in dem Brief gestanden hatte. Erschossen von einem, der möglicherweise auf Befehl des Leutnant Wladimir Neubauer gehandelt hatte. Sie wusste von den Scharfschützen der Roten Armee, die, wie es hieß, feige aus sicherer Position nur darauf warteten, dass sich ein armer Landser eine Zigarette anzündete, um den Abzug an seinem Scharfschützengewehr durchzuziehen.

      Sie erzählte Wladimir davon, der betroffen war, ehrlich ergriffen. Allerdings stelle er ihr die Frage, die sie sein Handeln verstehen ließ. „Wenn dich jemand in deiner Laube überfällt, dich vergewaltigt und deine Kinder tötet, am Ende die Laube anzündet. Was würdest du tun, hättest du ein Gewehr und die Gelegenheit, den Verbrecher zu bestrafen?“

      Waltraud musste nicht lange nachdenken, zu sagen, dass sie den Tod ihrer Kinder rächen würde.

      „Und genau das, Waltraud, ist vielfach in unserem Land geschehen. Deine Leute haben uns überfallen, haben gemordet, geschändet und vergewaltigt. Wir mussten uns verteidigen, mussten unsererseits Töten.“

      „Und haben nicht viele von euch deutsche Frauen vergewaltigt?“

      „Ja, das hat es gegeben, aber wurde es bekannt, entgingen die Täter ihrer Strafe nicht.“

      Waltraud hörte ihn an, war sich aber nicht sicher, ob sie seinen Worten Glauben schenken sollte. Seiner Liebe jedenfalls konnte sie sich nicht erwehren. Nein, gestand sie sich ein, sie liebte diesen Rotarmisten, und was sie besonders erstaunte, war, dass er sie die Liebe zu Ernst vergessen ließ. Langsam zwar, doch beständig.

      Dann, eines Tages, wusste Waltraud Berger, dass sie schwanger war. Nie war sie es gewesen, die bestimmte, wann sie sich treffen konnten.

      Das war natürlich von seinem Dienst abhängig. Er kam, wann er konnte. Drei Tage sah sie ihn nicht, da wurde sie unruhig. Jetzt, mit dem Wissen um ihren Zustand, konnte sie es nicht abwarten, fuhr nach Karlshorst, meldete sich bei der Kommandantur.

      Zuerst wollte man ihr keine Auskunft geben, doch Waltraud ließ nicht locker, bis man sie zum Büro eines Offiziers brachte, der sie anhörte. Dessen offene und freundliche Art bewirkte, dass es sich Waltraud getraute, die Wahrheit zu sagen.

      Als der Mann hörte, dass Waltraud ein Kind von dem Oberleutnant erwartete, änderte sich dessen Gesichtsausdruck.

      „Fräulein Wendorf, so leid es mir für sie tut, darf ich keine dienstlichen Angaben über den Mann weitergeben, den sie für den Vater ihres Ungeborenen halten. Ich werde ihre Personalien aufnehmen, man wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.“

      Natürlich wusste der Offizier mehr, war darüber informiert, dass Wladimir Neubauer, wegen dieser Affäre, wie man es nannte, in den Norden der sowjetischen Besatzungszone versetzt worden war, mit der strikten Anweisung, jegliche Verbindung zu Waltraud Wendorf abzubrechen.