Reiner Kotulla

Dagebliebene


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Vergewaltigung gab.

      All das konnte Waltraud nicht wissen. Sie sah sich von Wladimir verraten, unterstellte ihm Feigheit und Flucht. All das, was man ihnen in der Hitler Zeit über die Russen eingehämmert hatte, tauchte wieder auf, führte dazu, dass Waltraud zu hassen begann.

      Da saß sie nun in ihrer Laube, deren Dach undicht, der Ofen ein Wrack und die Gartenpumpe im Winter eingefroren war. Wie sollte sie unter diesen Umständen ein Baby versorgen? Jetzt war es August, und noch immer hoffte sie auf ein Lebenszeichen von Wladimir. Was sie nicht wissen konnte war, dass der Oberleutnant nichts unversucht gelassen hatte, Kontakt mit Waltraud aufzunehmen. Das allerdings auf dem so genannten Dienstweg, und der war auch bei der Roten Armee oft sehr lang.

      Waltrauds Gedanken kreisten fast ausschließlich um den ständig näherrückenden Geburtstermin. Natürlich bemühte sie sich beim Wohnungsamt im sowjetischen Sektor Berlins um eine geeignete Unterkunft. Doch das konnte unter den Umständen die in den vierziger Jahren herrschten, kaum gelingen. So folgte sie schließlich dem Rat einer Freundin, der es nach der einseitigen Währungsreform in Westberlin materiell nicht so schlecht ging und meldete sich bei der entsprechenden Stelle dort als Flüchtling aus der sowjetischen Besatzungszone. Als Grund für ihre Flucht gab sie an: „Ich bin von einem russischen Soldaten vergewaltigt worden und nun schwanger.“

      Das verschaffte ihr Öffentlichkeit und Zuwendungen. Damit war ihr Fall ein gefundenes Fressen für die Presse im Westen der Stadt.

       Zur Sache

      Viele alliierte Soldaten vergewaltigten und missbrauchten deutsche Frauen nach Kriegsende und in der Besatzungszeit. Zu den Gräueltaten kam es nicht nur im Osten.

      Nach den Niederlagen der Wehrmacht im Osten und im Westen stieg die Angst der Deutschen vor allem in den Ostgebieten vor der Vergeltung durch sowjetische Truppen. Einen großen Teil dazu trug die Propaganda der NS-Führung bei, die nicht müde wurde, vor den „animalischen“ Soldaten aus der Sowjetunion zu warnen. Bekannt war das Bild, das die Faschisten von dem Sowjetsoldaten zeichneten, einem Plakat, auf dem ein Menschenaffe in der Uniform der Roten Armee mit gezogenem Dolch abgebildet war.

      „Lass uns ein bisschen Spaß haben“, befahl der Offizier der japanischen Armee

      dem Mädchen, „du siehst hübsch aus.“ Dann zeigte er ihm sein Geschlecht.

      ‚Ich fürchtete mich so. Er nötigte mich, mich auf den Boden zu legen, und verletzte

      mich mit seinem Bajonett. Er zog mir die Hose aus und vergewaltigte mich, bis ich blutete.‘ Die Szene, die die Koreanerin Kim Young Suk im Dezember 2000 vor einem inoffiziellen Kriegsverbrechertribunal in Tokio schilderte, könnte sich so oder so ähnlich auch in Weißrussland abgespielt haben. Oder in Frankreich. Oder in Deutschland. Niemals seit dem Dreißigjährigen Krieg wurden in einem Kampf so viele Frauen und Mädchen vergewaltigt wie im Zweiten Weltkrieg. Millionen mussten ‚bekennen‘, wie deutsche Frauen damals verschämt sagten. Zehntausende starben an den Folgen, wurden umgebracht oder begingen Selbstmord. (…) Oft waren die Opfer noch Kinder wie Kim Young Suk. Bis zu 40 Freier hatte die damals Zwölfjährige täglich zu ertragen. Einer brach ihr dabei den Arm. Während über die Gräueltaten der Russen und der Japaner erste Untersuchungen vorliegen, gibt es zu den Übergriffen der westlichen Alliierten bisher wenig wissenschaftliches Material. Nur 487 Vergewaltigungsprozesse zwischen März und April 1945 sind bei den 1,6 Millionen US-Soldaten in Deutschland aktenkundig. Über Belästigungen von Frauen durch die Briten liegen keine Berichte vor. Den schlechtesten Ruf unter den Westalliierten erwarben sich die Franzosen. Bei der Einnahme von Stuttgart und Pforzheim etwa kam es zu Massenvergewaltigungen. Im württembergischen Freudenstadt missbrauchten französische Besatzungssoldaten Bewohnerinnen des Ortes tagelang. Und die Landser der Wehrmacht? Wie hielten sie es mit der von ihnen geforderten „Manneszucht“? Dass Angehörige der SS Frauen nicht verschonten, ist bekannt. Die Wehrmacht dagegen galt lange Zeit als ‚sauber‘. Eine neue Studie der Historikerin Birgit Beck weist jetzt nach, dass Soldaten der Wehrmacht an Verbrechen gegen Frauen beteiligt waren. Zwar berücksichtigte die Wehrmachtsführung die sexuellen Bedürfnisse ihrer Soldaten, etwa indem sie ihnen – anders als die Rote Armee – regelmäßig Fronturlaub gab. Auch ließ die deutsche Armee in allen besetzten Gebieten Bordelle einrichten. Doch bis heute ist nicht erforscht, wie viele der Frauen, die in den rund 500 Wehrmachtsbordellen arbeiteten, dazu von den Deutschen gezwungen wurden. Augenzeugen berichteten in dem Dokumentarfilm „Frauen als Beute“, dass Russinnen und Jüdinnen, etwa aus Konzentrationslagern, aber auch von der Straße weg in die Soldatenpuffs im Osten verschleppt wurden. Auch auf dem westlichen Kriegsschauplatz ist Zwangsprostitution nachweisbar. So wurden Französinnen aus Internierungslagern in Wehrmachtsbordelle gebracht und zur Prostitution gezwungen. Für Beck ist dies ein Beleg dafür, dass sexuelle Gewalt bei der deutschen Armee institutionalisiert war. Für ihre Studie hat die Wissenschaftlerin Prozessakten der Militärgerichte ausgewertet. Danach kam es in allen besetzten Ländern zu Vergewaltigungen. In Polen, in der Sowjetunion, aber auch in Frankreich oder Italien. Aktenkundig sind Einzel- sowie Gruppenvergewaltigungen. Die Opfer wurden mit Waffen bedroht, geschlagen, getreten. Morde sind hingegen kaum dokumentiert. In nur zwei der von Beck untersuchten Verfahren ging es um Sexualdelikte mit anschließendem Mord. Unklar sei aber, so Beck, ob es tatsächlich nur so wenige waren. Verdächtig ist die vergleichsweise kleine Zahl an Verurteilungen: Von den über 17 Millionen Wehrmachtssoldaten wurden bis 1944 gerade mal 5349 wegen ‚Sittlichkeitsverbrechen‘ bestraft. Insgesamt aber wurden Militärurteile gegen rund 1,5 Millionen Wehrmachtsangehörige gefällt – etwa wegen Fahnenflucht oder Selbstverstümmelung. Beck nimmt an, dass die geringe Zahl der geahndeten Sexualdelikte wenig über deren tatsächliches Ausmaß aussagt. Vielmehr sei Notzucht entweder gar nicht angezeigt worden, oder sie habe in den Augen der Militärrichter nur eine ‚untergeordnete Rolle‘ gespielt, vermutet die Historikerin.

      Dass Übergriffe gegen Frauen im Besatzungsalltag häufiger vorkamen, als die

      Aktenlage suggeriert, legen Indizien nahe. (…) Ein wesentlicher Faktor für die geringe Zahl der Verurteilungen dürfte der ‚Gerichtsbarkeitserlass Barbarossa‘ gewesen sein. Auf Anordnung Hitlers herrschte seit dem 13. Mai 1941 kein Verfolgungszwang mehr für ‚Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht gegen feindliche Zivilpersonen begehen‘. Der Erlass erklärte alle Zivilisten für vogelfrei.

      Wie wenig die Militärjustiz gewillt war, Gewalt gegen Frauen hart zu ahnden, zeigt der Prozess gegen einen Obergefreiten, der wegen Vergewaltigung einer jungen Russin angeklagt war. Der Richter verurteilte den Mann wegen ‚Notzucht‘ zu 18 Monaten Gefängnis. Eine schärfere Strafe sei nicht nötig, da keine ‚besondere Schädigung des Ansehens der deutschen Wehrmacht‘ vorliege. Die Milde war verordnet. Schon 1940 befahl der Oberbefehlshaber des Heeres, General Walther von Brauchitsch, Soldaten, die bei der Vergewaltigung eine Waffe benutzt hatten, seien nicht als Gewaltverbrecher zu bestrafen. (…) Entschuldigend führte der General aus: ‚Das Leben unter völlig veränderten Bedingungen, starke seelische Eindrücke und zuweilen auch übermäßiger Alkoholgenuss