Reiner Kotulla

Dagebliebene


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vermuteten Reaktionen der Alten und zogen uns an.

      Am Bahnhof Wuhlheide trennte ich mich von den anderen, denn ich wollte in den Park fahren, wo etwas Neues am Entstehen war. Über den Hauptweg erreichte ich die erste Baustelle, ein großflächiges Loch auf einer gerodeten Lichtung. Ich lehnte mein Rad an eine Kiefer, lief an einem Schienenstrang entlang. Am Ende stand eine Kipplore. Dort traf ich auf drei Jungen, ich schätzte sie auf 18 Jahre, die dabei waren, die Lore mit Sand zu befüllen.

      Unschlüssig stand ich eine Zeit lang, getraute mich nicht, sie anzusprechen, bis einer von ihnen die Schaufel beiseite legte, zu mir kam und fragte: „Na, du willst uns wohl helfen?“

      „Vielleicht“, sagte ich leichthin, obwohl ich bis dato keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Ich fragte: „Was macht ihr hier eigentlich?“

      „Man nennt es Sisyphusarbeit, wenn du verstehst was ich meine?“

      Natürlich verstand ich ihn nicht.

      „Entschuldigung“, sagte ich im aufsässigen Ton eines Fünfzehnjährigen, „bin nur Betriebsschlosserlehrling, also arbeite, und du?“ Da lachte er: „So nennt man es, wenn man einen Haufen Sand zu einem neuen anhäuft. Aber im Ernst, hier entsteht ein Badesee, und der Sand wird für die Freilichtbühne gebraucht, die dort hinten“, er zeigte in Richtung des Waldes, „entsteht“.

      „Und wozu das Ganze?“ wollte ich wissen. „Im nächsten Jahr werden in Berlin die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten sein. Hier in der Wuhlheide entsteht ein Pionierpark, in welchem viele Veranstaltungen stattfinden und indem eine Menge Gäste untergebracht werden. Insgesamt kommen mehr als 20.000 Freunde aus über 100 Ländern. Kurz und gut, im nächsten Sommer muss alles fertig sein, und deshalb brauchen wir jeden.“ „Wer ist wir?“ „Die FDJ, du weißt...“Ich wusste natürlich, hatte auch überlegt, der Jugendorganisation beizutreten. Er fuhr fort: „Wir arbeiten hier nicht nur zusammen, sondern wohnen in den fertigen Hütten im Wald und haben abends oft viel Spaß miteinander.“

      Die Absicht war klar, er wollte mich anwerben.

      „Wie stelle ich das an?“

      „Ganz einfach. Du lässt dich von deinem Betrieb für ein paar Wochen hierher delegieren.“In dem Moment hörten wir lautes Lachen - Mädchen offensichtlich. Da kamen sie auch schon vom Hauptweg her, alle einen Spaten auf der Schulter tragend. „Überleg dir's, frag im Betrieb nach. Und wenn es klappt, kommst du her. Ich heiße Jonas“, sagte er und rannte den Mädchen entgegen. Das hörte sich alles verlockend an, ging es mir durch den Kopf. Und wenn da auch Mädels mitmachen...

      Am Montag Morgen ging ich zum Ausbildungsleiter und fragte nach. „Du hast sicher mit deinen Eltern darüber gesprochen?“ fragte er. „Hab‘ ich, und die haben nichts dagegen.“

      „Dann delegieren wir dich dahin, aber nur bis zum 1. September. Natürlich schreibst du alles, was du dort tust, in dein Berichtsheft, so wie hier auch.“

      Kein Problem, dachte ich. Ob ich aber alles, und dabei dachte ich an die Mädels …

      Ich erledigte die notwendigen Formalitäten, verabschiedete mich von meinen Kollegen, die mir neidisch nachblickten, als ich die Lehrwerkstatt verließ.

      So war das in der DDR. Alles begann am 1. September, die Schule, die Lehre, das Studium. So konnte man später nicht vergessen, wann etwas angefangen hatte.

      Dieses Jahr jedoch würde ich niemals vergessen. Mein Leben sollte in völlig neue Bahnen geraten, und das begann schon an diesem Abend.

      Ich wollte keinen Tag mehr versäumen, und so fuhr ich, nachdem ich zu Hause Bescheid gegeben hatte, mit dem Rad hinaus in die Anlage, die zum Pionierpark werden sollte.

      Skeptisch sah meine Mutter schon drein, als ich andeutete, dort nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen zu wollen. Mein Vater beruhigte sie, meinte, dass dort schon für die Sicherheit der Arbeiter gesorgt werden würde.

      „Dann packe ich dir schon mal alles ein, was du für eine Woche brauchst.“ Damit legte meine Mutter vorsorglich den Termin für meine erste Heimkehr fest.

      Ich fand Jonas in der Sandgrube. „Immer noch bei der Süfisisarbeit?“ fragte ich.

      Er lachte: „Sisyphus hieß der alte Grieche, und du Peter scheinst dich entschieden zu haben.“ Er hatte also meinen Namen nicht vergessen. Ich berichtete von dem Gespräch mit dem Ausbildungsleiter und mit meinen Eltern, dass ich das Berichtsheft führen und am Wochenende nach Hause kommen sollte.

      „Sag, wenn du Hilfe brauchst. Und jetzt zeige ich dir erst einmal alles, dann weißt du morgen früh, wo du hingehörst.“

      Er lief zu den anderen, redete kurz mit ihnen und kam zu mir zurück.

      „Gehen wir zuerst zu der Hütte, wo du wohnen wirst.“

      Vier Doppelstockbetten, ein Tisch und acht Stühle in der Mitte, neben jedem Doppelstockbett ein Schrank. Fünf Häuser standen im Viereck unter Kiefern und Birken. Zwischen ihnen, in der Mitte fünf grob zusammengezimmerte Tische mit eben solchen Bänken davor. Zwei Sanitärhütten, Toiletten, Duschkabinen und Wasserhähne über Wasserrinnen.

      „Vier Hütten sind im Moment belegt, zwei für Jungen und zwei für Mädchen. Und die dort an der Stirnseite, ist die Versammlungshütte fürs Politische und Gemütliche. Wirst du alles noch kennen lernen.“

      Ich war mitgelaufen, wortkarg bisher, musste alles erst einmal verarbeiten. Eine Nacht noch zu Hause und dann

      würde ich drei Monate hier mitten im Wald leben und arbeiten.

      Am Dienstag Morgen bezog ich im Haus Nummer drei mein Bett und räumte meine Sachen in den Schrank. Ich zog mir meine Arbeitsklamotten an, lief zur Baustelle, wo ich Jonas traf, den einzigen, den ich bisher hier kennen gelernt hatte. Der stellte mich jetzt den Kolleginnen und Kollegen vor, zum Schluss einem Mädchen namens Britta, die, so sagte er, ab heute für mich zuständig sei. Blond, mit blauen Augen. Ein Allerweltsgesicht, war mein erster Eindruck. Ihr Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und der Arbeitsanzug war ihr offensichtlich ein paar Nummern zu groß.

      Mit Mädchen zusammenzuarbeiten, war für mich nichts Neues. In der Lehrwerkstatt standen einige an den Schraubstöcken, Drehbänken und Fräsmaschinen.

      Britta sah mir kurz in die Augen und dann an mir herunter. „Du trägst ihn heute nicht zum ersten Mal, ich meine den Arbeitsanzug“, sagte sie, die optische Einschätzung abschließend. Ich sah das als Aufforderung an, von mir zu erzählen. „Stimmt, im September komme ich ins zweite Lehrjahr, will Schlosser werden.“

      „Wo?“

      „Im KWO.“

      „Du meinst im VEB Kabelwerk Oberspree?“

      „Genau.“

      „Dann sind wir ja Kollegen, ich erlerne im Nachbarbetrieb, VEB Transformatorenwerk Karl Liebknecht, den Beruf einer technischen Zeichnerin.“

      „Du meinst im TRO.“

      Britta lachte, war aber nicht beleidigt. Seltsam, dachte ich, waren wir doch im vergangenen Jahr zusammen mit den Lehrlingen dieses Werkes zum Ernteeinsatz in Mecklenburg gewesen. Da hatte ich sie nicht bemerkt.

      „Na los, gehen wir mal“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.

      „Warst du schon einmal bei der Freilichtbühne?“

      Ich verneinte, und so lief sie mir voraus, entlang der Schienen. Bald erreichten wir die Baustelle „Freilichtbühne“. Britta wies auf den riesigen Schutthaufen und fügte erklärend hinzu, dass es sich da um Mauerschutt handele, ein Erbe des Krieges. Zusammen mit dem Sand aus dem zukünftigen Badesee entstände daraus der Unterbau der Freilichtbühne. Das war sie also, die angebliche Sisyphusarbeit, dachte ich für mich.

      „Kennst du schon den Plan für heute Abend“, fragte sie mich wie nebenbei, als wir wieder auf dem Weg zu unserer Baustelle waren.

      „Nein.“

      „Um