Reiner Kotulla

Dagebliebene


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das Wort Stalins galt: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber, der deutsche Staat bleiben bestehen.“

      Einen von den Gleichgesinnten von damals traf ich wieder. Das muss 1952 gewesen sein. Der „Rote Leutnant“, so nannten wir ihn, wenn keiner von den anderen in der Nähe war, erzählte, wir saßen im Stadtcafé, dass er nach seiner Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone, zuerst Bürgermeister seiner Heimatstadt und nach dem Studium der Germanistik Schriftsteller geworden sei. Über den Krieg habe er geschrieben und auch meine Geschichte erzählt, die er „Druschba“ genannt habe.

       Zur Sache

      Einen sehr guten Beleg dafür, wie mit den Tätern und Mitläufern des deutschen Faschismus nach der Befreiung verfahren wurde, fand ich im jüngsten Buch von Michael Kubi, „Zur Geschichte der Sowjetunion, Bodenfelde 2019“. Den Text habe ich im Original übernommen und die Anmerkungen direkt in ihn eingefügt.

      "Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es — Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Hass aber allein den Kommunismus bekämpfen." (Mann, T. (1986) in: Essays, Hg. von H.Kurzke, Frankfurt, Bd. 2, S. 311 ' Zitiert in Hartmann (2007), S. 13)

      Während des Kalten Krieges wurde die Totalitarismus-Doktrin, also die unwissenschaftliche Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus, zum Paradigma für die Geschichtswissenschaft. Unter einem Paradigma versteht man die grundsätzliche Denkweise, Lehrmeinung oder Ideologie, die vorherrschend ist. Seitdem dient die Totalitarismus-Doktrin als das Paradebeispiel der Geschichtsschreibung über die Sowjetunion, Stalin und den Sozialismus (und damit auch anderer sozialistischer Staaten wie die DDR) allgemein.

      Vorherrschend in der BRD ist das Bild der zwei deutschen Diktaturen - des Dritten Reichs und der DDR. Welches die schlimmere Diktatur sei, darüber streiten sich die Herrschenden. Doch es mehren sich Stimmen, dass die DDR mindestens genauso schlimm, wenn nicht gar schlimmer war als der Faschismus. So sagte der BRD-Kanzler Adenauer 1950: "Ich wollte, die Bewohner der Ostzonen-Republik könnten einmal offen schildern, wie es bei ihnen aussieht. Unsere Leute würden hören, dass der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo, durch Konzentrationslager, durch Verurteilungen ausgeübt hat, mäßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht." (Mann, T. (1986) in: Essays, Hg. von H. Kurzke, Frankfurt, Bd. 2, S. 311 ' Zitiert in Hartmann (2007), S. 13)

      Jahre später verfasste der ehemalige FDP-Außenminister unter BRD-Kanzler Helmut Kohl, Klaus Kinkel, folgende Worte: "Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland." (Hartmann, R. (2007): Die DDR unterm Lügenberg. Hannover: Ossietzky, S. 14)

      Diese Aussagen Adenauers und Kinkels zur Gleichsetzung des Hitler-Faschismus mit der DDR wirken grotesk, wenn man bedenkt, dass die BRD im Wesentlichen von jenen herrschenden Teilen errichtet und geführt wurde, welche schon unter Hitler bedeutende Posten hatten: So war Adenauers persönlicher Berater, Hans Globke, aktives Mitglied der Nazi-Partei NSDAP und Berater im Innenministerium für jüdische Fragen, welches für die logistische Administration des Holocausts verantwortlich war. Außerdem war Globke Verfasser diverser antijüdischer Gesetze. Wirtschaftsminister unter Adenauer und zweiter Bundeskanzler war Ludwig Erhard, welcher propagandistisch vom BRD-Regime als Vater des Wirtschaftswunders in Deutschland gefeiert wird. Gerne wird dabei vertuscht, dass Erhard Mitglied der Reichsgruppe Industrie und des Instituts für Industrieforschung war, welche vom Monopol IG-Farben finanziert wurde. Dieses Unternehmen ist dafür bekannt, das Gas Zyklon-B produziert zu haben. Kurt Georg Kiesinger, der dritte Bundeskanzler der BRD und lange Zeit CDU-Chef, war seit 1933 Mitglied der NSDAP und ab 1940 im Außenministerium des Deutschen Reichs tätig und von 1943-45 Verbindungsbeamter mit dem Propagandaministerium unter Joseph Goebbels. Altbundespräsident Heinrich Lübcke war mit dem Bau von Konzentrationslagern beauftragt. Hans Speidel, von 1957 bis 1963 Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa bei der NATO, war im Zweiten Weltkrieg Chef des Stabes der Heeresgruppe B. Reinhard Gehlen, Präsident des Bundesnachrichtendienstes BND bis 1968, war Generalmajor der Wehrmacht und dort Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost. Auch in anderen Bereichen der BRD hatten führende Nazikader hohe leitende Funktionen, so z. B. der Psychologe Carl Schneider, der in den Euthanasie-Programmen der Nazis involviert war und in der BRD Präsident der psychiatrischen Klinik der Heidelberger Universität wurde.( De la motte & green (2015): Stasi State or Socialist Paradise? The German Democratic Republic and what became of it. London: Rüssel Press, S. 19-21)

      Insgesamt waren bis in die 1960er Jahre Staat, Justiz und Wirtschaft von hohen Nazi-Kadern geführt: der Bundespräsident, 20 Angehörige des Bundeskabinetts und Staatssekretäre, 189 Generale, Admirale und Offiziere in der Bundeswehr oder in den NATO-Führungsstäben sowie Beamte im Kriegsministerium, 1118 hohe Justizbeamte, Staatsanwälte und Richter, 244 leitende Beamte des Auswärtigen Amtes, der Bonner Botschaften und Konsulate, 300 Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes sowie anderer Bundesministerien. (Autorenkollektiv (1968): Braunbuch, dritte Auflage, S. 10 http://www.kpd-ml.org/doc/partei/braunbuch.pdf)

      In der DDR hingegen wurde umfassend "Entnazifiziert": Mit Otto Grotewohl, Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Albert Norden, Herman Axen, Hilde Benjamin und vielen anderen wurde die Regierung der DDR von Leuten gebildet, die entweder von den Nazis inhaftiert waren oder im Exil lebten. (DE LA MOTTE&GREEN(2015), S. 17-18)

      Nun neigen einige Verteidiger der BRD dazu, zu behaupten, dass ja auch in der DDR Nazis Karriere machen konnten. So behauptet der "Berliner Kurier", dass über ein Drittel der ZK-Mitglieder der SED frühere Nazis gewesen seien.

      (Berliner kurier 2.10.2017: http://www.berliner-kurier.de/berlin/kiez— stadt/forschungsprqjekt-wie-alt-nazis-in-der-ddr-karriere-machten-28523826?dmcid=sm_fb_p 182 joseph (2002), S. 102f.)

      Der "Berliner Kurier" nennt zwar keine Namen, doch ist es durchaus so gewesen, dass es ehemalige NSDAP-Mitglieder in der DDR gab, die Staatsfunktionen ausübten. Doch im Vergleich zur BRD gab es wesentliche Unterschiede. Während in der BRD führende Nazikader und Nazi-Kriegsverbrecher ohne jegliche juristische Überprüfung in hohe Ämter befördert wurden, wurden in der DDR ehemalige NSDAP-Mitglieder genauestens auf ihre Schuld geprüft bzw. mussten sich antifaschistisch engagieren. Führende Posten zum Beispiel in der SED, NVA, FDGB und MfS wurden von Antifaschisten geleitet. In einem Beschluss vom 20. Juni 1946 erklärte der Parteivorstand der SED, dass: "(...) auch die nominellen Mitglieder der NSDAP auf Grund ihrer Mitgliedschaft zur Nazipartei einen Teil Schuld und Mitverantwortung für die verbrecherische Hitlerbande auf sich geladen [haben]. In den verflossenen Jahren haben aber zahlreiche ehemalige einfache Mitglieder der Hitlerpartei (...) loyal beim demokratischen Wiederaufbau mitgearbeitet. Sie haben damit bekundet, dass ihre frühere Einstellung falsch war, andere sind auf dem Wege anzuerkennen, dass sie nur durch die Eingliederung in die demokratische Ordnung und durch eine praktische Mitarbeit wiedergutmachen können, was sie an der Vergangenheit an Schuld auf sich geladen haben. (...) Alle früheren einfachen Mitglieder der Nazipartei, die nicht besonders belastet sind und sich als aktive Mithelfer an der neuen demokratischen Ordnung betätigen, sollen als Staatsbürger anerkannt und behandelt werden."

      (Joseph (2002), S. 102f)

      "Alliierte Kontrolldirektive Nr. 38 vom 12. Oktober 1946 (...) In Artikel IV wurde definiert, wer minderbelastet sei: 'Wer nach dem 1. Januar 1919 geboren ist, nicht zur Gruppe der Hauptschuldigen gehört, jedoch als Belasteter erscheint, ohne aber ein verwerfliches oder brutales Verhalten gezeigt zu haben und nach seiner Persönlichkeit eine Bewährung erwarten lässt.' (...) Die Sowjetische Militäradministration erließ am 16. August 1947 den Befehl Nr. 201. Nach der Feststellung, dass in der SBZ Umfassendes zur Säuberung der öffentlichen Behörden, staatlichen und wichtigen Privatunternehmen von ehemaligen