Matthias Wagner

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Yeah! Die! Die! Death Metal Symphony in Deep C” (1996)

      „Für mich“, sagt Kärtsy Hatakka, „ist Death Metal nicht purer Krach, sondern ein Stil, der mit klassischer Musik einiges gemeinsam hat.“ Ergo schrieb er mit dem Dirigenten Riku Niemi die erste Deathmetaloper der Welt und inszenierte sie mit seiner Finnencombo Waltari und dem Sinfonieorchester Avanti. Da rettet ein Engel John Doe (= Otto Normalverbraucher) aus den Fängen eines diktatorischen Computers, ehe sie alle vom Technotrommelfeuer ins Nirwana der 90er geprügelt werden: das Internet. Das ist humorvoll und musikalisch präzise, aber wenig homogen. Doch mit rasenden Übergängen zwischen Trash und Sinfonik nutzen Waltari die Trägheit der Masse, um zu überbrücken, was eigentlich unüberbrückbar ist. Denn wir funktionieren wie unsere Augen: Das letzte Bild klebt noch auf der Netzhaut, wenn das nächste schon ankommt; das Gehirn denkt beide zusammen, und am Ende entsteht SINN.

      Whipping Boy

      „Heartworm” (1996)

      Im mitreißenden Dreamrock der irischen Whipping Boy sind sämtliche britischen Essenzen aufgehoben: von James das Andächtige, von Suede die Melancholie, von House Of Love die große Gitarrengeste, von den frühen U2 die Riffs und von den Tindersticks der Mut, ein Streichorchester mit der Illustration von Gefühlen zu betrauen. Woher aber haben sie die weder vererb- noch klaubare Fähigkeit, ein komplettes Album mit Ohrwürmern zu schreiben? Stücke wie „When we were young“, „Blinded“ oder „We don’t need nobody else“ sind nach dem ersten Hören so vertraut, als wären sie bereits ins kollektive Gedächtnis des Rock’n’Roll eingesunken. Und zugleich ist man sich völlig sicher, ihrer niemals überdrüssig zu werden. Wie machen sie das? Magie? Ein großes (zweites) Album, eine frühvollendete Band. Hier die Namen der vier Dubliner, damit ihr von nun an wisst, wo ihr sie das erste Mal gelesen habt: Ferghal McKee (voc), Myles McDonnell (b, voc), Colm Hassett (dr) und Paul Page (g). „Es gibt eine Zeit, in der man alles sein kann und eine Zeit, in der man nichts ist“, sagt McKee. Eine von beiden ist vorbei.

      Willy DeVille

      „Big easy Fantasy” (1996)

      Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass der Punkverweigerer und ludenhafte Berufsdandy je den Status einer unantastbaren Rockgröße mit Legendenpotenzial erränge? Heute ist seine Credibility so groß, dass sich gar TV-Ereignisse („Der Schattenmann“) mit seinen Songs schmücken, und live ist Willy eh ein Muss. Auch auf Platte. Sein Live/Studio-Mix „Big Easy Fantasy“ weist die Großstadtpflanze neuerlich als Meister des ländlichen Mariachistils aus. Doch ob er locker köchelnde Texmexversionen von „Who shot the Lala“ oder „Hey Joe“ schon als Altersruhesitz auserkoren hat, ist ungewiss. Willy ist alles zuzutrauen – auch dass er schlohweiß endlich doch noch den Punk entdeckt.

      Wolfgang Mielitz

      „Pieces of Mind” (1996)

      So hochkarätig wie (dem breiten Publikum) unbekannt sind Wolfgang Mielitz’ Mitmusiker. Mit Sidemen und -women von Antolini oder Dennerlein barbluest sich der schwäbische Gitarrist und Sänger durch die leichte Muse des Popjazz – sehr sanft und locker, weil unbeschwert von den Zwängen des Profitums. Amateurhaft klingt das dennoch nicht. Das Latinflair, der Funktouch, die luftige Ruhe, der entspannte Ton: All das will nachts im Auto gehört werden, wenn keiner sonst unterwegs ist und man sich mit einer Spur Wehmut verflossener Freuden entsinnt. Musik zwischen Michael Franks, George Benson und Horst Jankowski. Und natürlich spätnachts eingespielt.

      Wolfsheim

      „Dreaming Apes” (1996)

      Füher packten Wolfsheim ihre Schwermut in geraden Elektropop in Moll. Heute, unterm Einfluss von Carlos Peron (Yello), streben sie nicht mehr zuvörderst nach Straightness. Am Wolfsheim-Himmel hängen schwere Synthiewolken, Pianotropfen fallen heraus wie pechschwarzer Regen, und einmal, ein einziges Mal, streift eine Harmonika durch diese elektronische Novemberwelt. Sänger Peter Heppener, die schönste Stimme des Genres (immer mit einem Anflug von Schnupfen in den Nebenhöhlen), singt dieser Welt Geschichten von Spuren im Schnee, tanzenden Schatten und wunden Herzen. Ein Album, das deutscher Empfindsamkeit von Hölderlin bis Trakl nachspürt – und immer Gefahr läuft, sich zu verheben.

      1997

      „Wenn Musik und ihr Erfolg wirklich etwas sagen über eine Kultur, was bedeutet dieses Album dann für unser Leben – the lunatics have taken over the asylum???“

      aus der Rezension zu „The Fat of the Land“ von The Prodigy

      Adventures In Stereo

      „Adventures In Stereo” (1997)

      Achtung, wir reisen. In ein Niemandsland zwischen Beach Boys, Paul Simon und Bongwater. In die Falte einer Zwischenzeit, die entstand, als sich die 90er durch einen Schluckauf des Raum-Zeit-Kontinuums über die 60er stülpten und plötzlich Beatgitarren auf Gesänge schlafender Engel stießen – und auf verlorene Knackser, die zu hören sind, wenn diamantene Nadeln über ein längst vergessenes Material schaben, das „Winül“ geheißen haben soll. Steuermann bei dieser Raumreise ist Jim Beattie, der früher bei Primal Scream war und haarscharf scheiterte am ganz großen Ruhm. Den wird’s für sein neues Projekt auch nicht geben, aber selige Seufzer von Zeitreisenden des Pop.

      Beach Boys

      „The Pet Sounds Sessions” (1997)

      Schon mal das organische Innenleben von Songs betrachtet, ihre Sehnen und Lymphbahnen? Ja? Aber nicht von „Pet Sounds“, einem der größten Meisterwerke des Pop. Es war 1966, und Beach Boy Brian Wilson wollte das Beatles-Werk „Revolver“ übertrumpfen. Das Ergebnis brachte einen baffen Paul McCartney wiederum zum Eingeständnis: „Ohne ,Pet Sounds’ hätte es ,Sgt. Pepper’ nicht gegeben.“ Interkontinentale Befruchtung! Das Glanzstück liegt jetzt in einer vorbildlichen Viererbox vor. Neben dem remasterten Originalmonomix des Albums gibt es eine Stereoversion – und natürlich erregende Blicke ins Innenleben. Wir sind Zeuge der Studiosessions, in denen sich unter Brian Wilsons bestimmter Führung Schicht für Schicht ein verzaubertes Universum aus Harmonien und Arrangements auftürmt. Und am Ende steht da ein makelloser Klangkörper, der zur überzeitlichen Popstatue wurde.

      Bernard Purdie

      „Soul to Jazz 11” (1997)

      Jazzfans und -musiker schätzen den Drummer Purdie seit den 60ern. Mit hochkarätigen Gästen wie Stanley Turrentine oder Jack DeJohnette lotet er nun instrumental die vielen Schnittmengen von Soul und Jazz aus – zum zweiten Mal, doch diesmal nicht im Bigbandkleid, sondern im frottierten Hausmantel. Von Traditionals wie „Nobody knows“ bis zu Isaac Hayes’ urbanem Filmsound („Shaft“) reicht das Coverspektrum, und Purdie gibt mit feinfühligem Schlag den Hausgästen die Stimmung vor: intim soll es bittschön zugehen, leise, ehrfurchtsvoll, bisweilen spirituell („Amen“). Musik für milde Frühherbstnächte, in denen die Stürme Pause machen.

      Big Head Todd & The Monsters

      „Beautiful World” (1997)

      Willkommen in der ersten Liga, meine Herren! Vorbei die Zeiten, da der Midtempocollegerock von Todd Park Mohr und seinen zwei Freunden zwar halb Colorado entzückte, dem Rest der Welt aber schnurz war. Für diese Prognose spricht einiges, etwa das durchgehend brillante Niveau ihres knackigen, countryinfizierten Soulrocks, die packende Single „Resignation Superman“, die des Albums Fahne trägt, oder die erdverwurzelte Art des Promiproduzenten Jerry Harrison (Talking Heads). Und als Gast singt der kultige Bluesveteran John Lee Hooker persönlich sein „Boom Boom“; da lässt er natürlich keinen anderen ran, nicht mal Todd Park Mohr.

      Bill Bruford, Ralph Towner & Eddie Gomez