solchen Song auf Lager hat, kann es kein schlechtes sein. Also.
David Byrne
„Feelings” (1997)
Die Talking Heads haben sich längst nichts mehr zu sagen. Als unlängst der kopflose Teil der Truppe unterm verwechselbaren Namen „The Heads“ so viele Gaststars wie Songs zusammentrommelte, war der Exchef David Byrne richtig sauer. Den Namen verbieten zu lassen, gelang ihm freilich nicht. Wie viel besser ist es auch, nun musikalisch zu kontern. Die stilistische Vielfalt, die bei den Heads orientierungslos klang, fügt sich bei Byrne zum Fähigkeitsspektrum eines weitgereisten Musikgenies. Weltweit ließ er sich von Grooves inspirieren und klingt nun ebenso oft latinesk wie funky. Und in Byrnes Stimme und Augen glimmt noch immer jener Funke Irrsinn, der den Mann schon zu Zeiten von „Psycho Killer“ zum Faszinosum machte.
Die Haut
„Spring” (1997)
Manchmal scheint diese Musik die schrille Fratze des Surfrock zu sein, gleichsam die Mr.-Hyde-Seele von Brian Wilson. Und dann fühlt man sich wie in einem Film von David Lynch, wenn die Kamera, gerade noch in gleißendem Licht, abtaucht in die Krume. Die Haut spielen Monsterrock, aber immer nur für drei Minuten – wie Popsongs. Die Haut: Das ist die Wucht in Tüten, der Biss ins Genick. Die Berliner wüten an gegen die Antiseptik von Techno und Drum & Bass, setzen den Synthiegenres rohe Instrumentals an die Kehle. Plattmachen heißt die Devise, aber gegroovt werden muss dabei, unbedingt. Denn die Blöcke von Songs haben packende Beats, bei aller Düsternis rollt der Rock. Und auf einmal ahnen wir, wie es in Brian Wilsons Geist ausgesehen haben könnte während all der Jahre im Heim.
Dinosaur Jr.
„Hand it over” (1997)
Als J. Mascis anfing, große Songs in schlampige Sounds zu stecken, war die Lo-Fi-Ästhetik geboren. Seither schludern Tausende von Bands herum, lassen Gitarren ungestimmt, hängen vollgeschneuzte Taschentücher über die Mikros und glauben, sie würden jetzt berühmt. Meist fehlt aber was: große Songs. Einen wie „The Wagon“: Der wird übrigbleiben. J. Mascis hat ihn geschrieben, doch auch er schüttelt nicht täglich Meisterwerke aus dem Holzfällerhemdsärmel. Urig aber die Klangideen: seltsam quäkende Trompeten, taumelnde Flöten – und natürlich altbekannte, an Feedbacks entlangschlingernde Schrammelgitarren. Seine Bübchenstimme quengelt und krächzt wie ehedem. Und Tausende von Bands werden noch einmal versuchen, das alles so lärmend, dynamisch und versifft hinzukriegen. Aber vergesst es.
Enigma 3
„Le Roi est mort, vive le Roi!” (1997)
Klar, durch die hohle Gasse des Ethnopop musste er wieder kommen, der unverbesserliche Michael Cretu, Studiotüftler und Sandra-Gatte. Wieder wabert chorale Gregorianik durch allerlei modisches Soundgeklingel, das so viel Substanz hat wie das Hologramm einer marmorn tuenden Gipsbüste made in Taiwan. Natürlich ist das attraktiv, eingängig und in schwachen Momenten verführerisch. Man fühlt sich wie ein Kafka-Fan, der widerwillig Stephen King verfällt – um am Ende erleichtert die plumpe Auflösung doof zu finden. Und wenn die Bedeutungsschwere von Zeilen durchraunt wird wie „MOST of the energy we spend is like a footprint in moving sand“, dann sind wir erfreulich rasch wieder kafkatreu. Wäre da nur nicht die Erinnerung an Sekunden der Schwäche …
Faust
„You know faUSt” (1997)
Keine Elaborate. Werner Diermaier und Jean-Hervé Peron von Faust lassen nur die karg bedruckte Plastikhülle der CD sprechen. Diese Kargheit entspricht dem musikalischen Konzept; die Hamburger Avantgarderocker mit Kultstatus nennen es „radikale Reduktion, maximale Intensität“. Seit 1969 gilt das Trio als raunend empfohlener Geheimtip Eingeweihter, doch 23 Jahre lang hatten sie geschwiegen; „You know …” ist nun das zweite Werk nach der Rückkehr. Und wie ehedem verbinden sie Geräusche mit Komponiertem, lassen mal Pink Floyd anklingen, um kurz darauf industrielle Klänge als Abrissbirnen gegen Popzitate einzusetzen. Im lyrischen, lärmenden Faust-Universum werden unsere Erwartungen ständig zertrümmert – von klugen Köpfen, die in ihrer Haltung zur Populärmusik Fleischwölfen gleichen. Ein Album voll gefährlich ruhiger und wilder Klangfahrten zwischen Flamenco und Fegefeuer, mit Haltestellen, die noch keinen Namen haben.
Gabor Szabo
„The Sorcerer” (1997)
Sein Gitarrenstil war spröde wie der eingetrocknete Rest am Boden eines Tequilaglases und sein Ton so wehmütig, wie es nun mal sein muss bei einem Ungarn, der im amerikanischen Exil leben musste war mit der Puszta im Herzen. Später hieß eins seiner Alben „My Country“: ein trauriger Blick zurück. „The Sorcerer“ aber stand 1967 am Beginn einer Karriere, die ihn zum Jazzstar gemacht hätte, wäre die Welt eine andere und Gabor weniger schüchtern gewesen. Er starb Anfang der 80er als kaum noch Bekannter; wer aber diese lockere Session im Bostoner Jazz Workshop hört, wird verzaubert sein von diesem spröden Zauberer, dessen orientalisch wirkende Harmonik andockt an den psychedelischen Zeitgeist jener Ära. Mit Jimmy Stewart brilliert er gitarristisch, Louis Kabok (b), Marty Morrell (dr) und Hal Gordon (perc) legen das Flair einer leicht futuristischen 60er-Bar kurz vorm Kehraus darunter. Magisch.
Genesis
„Calling all Stations” (1997)
Mike Rutherford und Tony Banks sind höfliche alte Herren. Deshalb ist das Kücken der Band, Ray Wilson (Ex-Stiltskin), auf den Bandfotos groß im Vordergrund. Mit Phil Collins’ Weggang hat sich die Band aus ihrer Erstarrung im gesichtslosen Popmainstream befreit. Nicht, dass sie das Progressive neu definiert, doch sie orientiert sich neu an den glorreichen Jahren mit Peter Gabriel (bis 1975). Auch Wilson hat Gabriel studiert, die Songs haben Länge, Midtempowucht und Pathos. Dennoch klingen die Briten eher nach späten Floyd als nach frühen Genesis, nämlich ziemlich unzeitgemäß. Ganz klar, Progrock ist die am schwierigsten zu reanimierende Leiche auf dem Friedhof toter Genres. Da hilft auch kein Kücken wie Wilson.
Genf
„Import/Export” (1997)
Und es erschien der Geist von Can und sprach: Kreuzet Elektronik und Gitarren und vergesset den Groove nicht, so ist euch die Zukunft des Rock gewiss. Die Kölner Oliver Brand (dr, keyb), Olaf Karnik (g) und Jens Massel (keyb) hörten die Botschaft wohl und taten, wie ihnen geheißen, fügten noch einen anthrazit schimmernden Bass bei, wilderten in Ambient und Indierock – und hier ist er, der verführerische instrumentale Fluss aus analogen und digitalen Quellen, der uns eine Ahnung gibt von der Zukunft. Oder ist sie es schon? Musik wie ein Strudel, und ehe man sich versieht, ist die Nacht um, und niemand weiß, wie sie verging. Ganz klar, das Genre heißt Krautgroove. Und Genf liegen in Führung, noch vor Kreidler.
Greg Garing
„Alone” (1997)
Mit der Stimme einer Countrychanteuse singen zu einer multiplen Rootsmelange, die man alleine anrührte, nachdem man die US-Musikgeschichte verdaut hat wie Quentin Tarantino die Filmhistorie: Das würde ja schon reichen. Aber der New Yorker Greg Garing hat das alles auch noch – mit Fuzz, Fiedeln, Flöten und mehr – fast allein instrumentiert; ein Universalgenie, dem Hank Williams und Roy Orbison im Kopf herumspuken, der irgendwo zwischen Robert Johnson, Prince und Tricky einen einsamen Hobbykeller bezogen hat. „Let me in, let me in“, fordert er im Titelsong, „bring this pain to an end.“ Gut, Greg: Willkommen im Gewusel der Postmoderne; wir brauchen einen wie dich. Und Alben wie dieses, aus denen mehr herausfließt als in sie einging.
Jerry Alfred & The Medicine Beat
„Nendää” (1997)
In der Weltmusik tummeln sich viele Romantiker, die das Edle im Wilden feiern. Alfred ist Indianer, lässt sich vom rosaroten Ethnogetue aber nicht