Keef-Riffs und knappen Wood-Soli. Vier Balladen sind auch dabei, alle mäßig, eine („Thief in the Night“) gar so langweilig wie Jaggers Endloszoff mit Jerry Hall – zumal Keith singt, was leider wie meistens bedeutet: Er kennt zwar grundsätzlich die Noten, weiß aber nicht, wo die Schlingel sich grad wieder rumtreiben. Fazit: Von Promiproduzenten (Was, Saber u. a.) und Gaststars (Preston, Keltner, Wachtel) auf Stadionformat gebrachter Mainstreamrock ohne jene bezwingenden Hooks und Riffs, die Jagger & Co. zu einer der größten Bands aller Zeiten machten. Das Leben geht weiter. Einfach so.
The Verve
„Urban Hymns” (1997)
Die Geschichte aller Kunst ist dialektisch. Jede Bewegung ruft nach ihrer Antithese, alle Avantgarde wird bald abgelöst vom Backlash. Und wo nervöse Rhythmen und Sprödigkeit regieren, entsteht rasch die Konterrevolution epischer Langsamkeit. Wir sind bei The Verve. Die Britband um den Sänger und Autor Richard Ashcroft nämlich ist episch und balladesk, wenn’s not tut auch sinfonisch („Bitter sweet Symphony“, „The Drugs don’t work“). Kein Zweifel: Das Pathos kehrt zurück in Charts und Herzen – und das im Postkutschentempo. Doch wozu bräuchte, wer solche Melodien hat, auch die Peitsche? Verve liefern DIE Antithese des Herbstes: gegen die Schnöselarroganz von Oasis, gegen die pessimistische Düsternis von Portishead und (natürlich) gegen den schrillen Dancepunk von The Prodigy. Das Verve-Universum ist ein oranges Bassin voll mit handwarmem Süßwasser. Und wir wollen nie mehr an Land.
Tilman Rossmy
„Selbst” (1997)
Ende des Jahrtausends war eine Spezies wieder da, die als ausgestorben galt: die Softies. Waren ihre Namen und Gesichter nicht Mitte der 80er leise aufgegangen in zahllosen Familien, die hinfort weibliche Stammlinien verfolgten? Hatte der Rest von ihnen sich nicht kollektiv mit Schafstrickwolle aus artgerechter Drittwelthaltung erwürgt? Nein. Manche hatten überlebt und machten jetzt Platten. Und darauf ging es, anders als im sozialkritischen Damals, nur noch um sie „Selbst“, wie Tilman Rossmy, der ungeföhnte König des Nuschelrock, denn auch sein zweites Soloalbum nannte. Sie sangen bitterscheu von „Musik und Freizeit“ (Monostars) und dem „Licht in deinen Augen“ (Rossmy), manche verstimmten dazu ihre Gitarren herzzerreißend (Monostars), andere wollten freudvoll verletzt „Lieber allein“ sein (Rossmy). All das sollte Softiefrauen schmachten machen, denn die hatten sie nunmehr im Dackelblick – und keine Latzhosenemanzen mehr, die ihnen doch nur einen Doppelnamen aufdrücken wollten. Und siehe: Es klappte gut. Dann verschwanden sie wieder. Aber wohin? In den „Zug nach Lübeck“ (Rossmy)? Oder auf den „Planet der Affen“ (Monostars)? Wir werden es wohl nie erfahren.
Tindersticks
„Curtains” (1997)
In sich einsinken. Die innere Vision anschauen, mit geschlossenen Augen. Herbstfarben malen, welche Saison draußen auch herrschen mag. Und manchmal die süßen Streicher bitter werden lassen und einschwenken auf das, was hinter jeder Schönheit und Melancholie lauert, bevor gar nichts mehr ist: die Dissonanz … Wohl keine Band der letzten zehn Jahre hat aus dem Stand einen so eigenen Stil erfunden, eine Klangfarbe, die sich stets beim ersten Ton als Tindersticks-Braun präsentiert. Das liegt an Stuart Staples vernuscheltem, romantischem Film-noir-Gesang, an den balladesken, auf „Curtains“ manchmal leicht anziehenden Tempi, den gedichtartigen Songs und der Koloratur der Arrangements aus Orgel, Streichern, kleiner Rockband und mexikanischen Trompeten. Wenn dereinst der letzte Vorhang fällt, wird man die Tindersticks als Partyband buchen. Und so schön wird nie eine Welt untergegangen sein.
Tomi Lunsford
„High Ground” (1997)
Irgendwann zog die Musikerfamilie Lunsford nach Nashville, doch als auch Klein-Tomi anfing, Country zu singen, stellte sich heraus, dass ihr reines North-Carolina-Herz vom unterkühlten Fließbandbetrieb in Tennessee nicht zu brechen war. Ihr Album steht fest auf den Schultern von Papa Jim und Opa Bascomb Lamar Lansford (der schon anno 1927 ein Folkfest angeschoben hatte), und selbst wenn das Booklet neumodisches Zeugs wie E-Gitarren ausweist: Wir hören vor allem die Mandolinen, Besen und Flüsterbässe von Bluegrass und Countryswing. Und Tomis Songwriting und Gesang sind stark und zart zugleich.
Townes Van Zandt
„The Highway Kind” (1997)
Im TVZ-Internet-Forum kam dieses größtenteils live aufgenommene Album nicht sehr gut weg. Die Hardcorefans fürchteten, Townes’ bisweilen schlechte Form könne Neulinge, die erst jetzt, nach seinem Tod, auf sein Werk stoßen, gleich wieder verschrecken. Was aber Eingeweihten geboten wird, ist viel. Hier spielt Van Zandt auch Abgelegenes, Entscheidendes: etwa Hank Williams’ „Lonesome Whistler“ (als Studiosession) oder Leon Paynes „Lost Highway“. Und dass er manchmal scheitert an der eigenen Verzweiflung, gehört zu den Essentials seiner Kunst. „Ihm war auf Erden nicht zu helfen“, schrieb die ZEIT, „aber er hat geholfen.“ Wieder einmal.
U2
„Pop” (1997)
Sie wollen sich immer wieder neu erfinden und backen den dichtesten Sound der Welt. Doch die letzten Evergreens, die U2 gelangen, sind auf „Achtung Baby“ von 1990. Seither suchen sie nicht mehr nach dem perfekten Popsong (oder finden ihn nicht mehr), sondern nach dem Klang, in dem die Welt ertrinkt, wie es im Song „Mofo“ heißt. Doch darin ertrinkt nur Bonos Stimme. „Pop“ klingt wie eine überdrehte Mischung aus T. Rex und Acidtrance, wie „Zooropa“ mit noch mehr Spuren, noch vielschichtigerem Gezischel von Synthies, Sequenzern und Samples, mit Gitarren wie von einem anderen Stern, mit manierierten Stereoeffekten. Und irgendwo in diesem Zeitrafferpop, der wahrscheinlich das Modernste ist, was zur Zeit möglich ist, kämpft ein kleiner katholischer Junge aus Dublin, der sich Bono Vox nennt und von Jesus und Freiheit und Gier singt, um Gehör. Doch es ist nur ein Flüstern im Sturm.
Verschiedene Künstler
„Come again“ (1997)
EMI wird 100, die Labelkünstler von heute ehren die von gestern – mit einen der besten Coversampler der Geschichte. Unter den 22 Adaptionen ist praktisch kein Flop, dafür viele Husarenstücke. Die Foo Fighters etwa krallen sich „Baker Street“, Dave Grohl persönlich zerpflügt das berühmteste Saxofonsolo der Popgeschichte per E-Gitarre. Feline verwandelt die elegische Hollies-Schnulze „The Air that I breathe“ in hymnischen Rock. Auf Schrittempo abgebremst servieren Sparkelhorse und Thom Yorke „Wish you were here“ als kargen Kammerrock. White Town covern Glen Campbells „Rhinestone Cowboy“, und wer sich nicht vorstellen kann, wie das Pophascherl Belinda Carlisle sich den Sex Pistols (sic!) nähert, der höre nur „Submission“. Ein reines Vergnügen auf zwei Alben.
Verschiedene Künstler
„Rapsody” (1997)
Diese Scheibe ist die perverseste Idee, seit Gott entschied, Beethoven ertauben zu lassen. Warren G., sonst G-Funker mit Hang zum Größenwahn und großen Kalibern, rappt mit der norwegischen Sopranistin Sissel den „Prince Igor“, Nas gibt „Mme. Butterfly“, Run DMC vergreifen sich an „Samson & Dalilah“ – kurz gesagt: Rap goes Classic. Oder auch: Time to say plemplem. Jedenfalls klingt’s wie ein konsequent weitergedachtes „Gangsta’s Paradise“. Und Arien, Produkte einer aristokratisch-steifen Musiktradition, mit dem weichen G-Funk amerikanischer Ghettokids zu verquicken, dürfte zwar LL Cool J den letzten Rest credibility rauben, dem Umsatz aber Beine machen. Pervers – aber auch nicht perverser als die Verbandelung eines Mittelgewichtsboxers mit einem blinden Tenor.
Yo La Tengo
„I can hear the Heart beating as one” (1997)
Auch nicht das Sperrige, Halbfertige widersteht mehr der (Un-)Kultur des Remixes. Also auch Yo La Tengo nicht. Das urige Konzept des Ehepaars Georgia Hubley und Ira Kaplan