Irgendwann verliert jedes Genre seine Unschuld. Dann will es plötzlich wichtig sein oder gar „anspruchsvoll“. Der Wahlberliner Harald Bluechel alias Cosmic Baby kommt vom Konservatorium, ging zum Techno und will ihn nun mit den Kompositionsprinzipien der Klassik peppen. Ein größerer Kontrast ist nicht vorstellbar: Hier die rein auf körperliche Aktion zielende Elektronik, da die hohe, über Jahrhunderte geformte Kunst der Kopfmusik. Cosmic Baby bedient sich beim Verschmelzungsversuch dann auch sicherheitshalber in den 70ern, bei Michael Garrison oder Jean-Michel Jarre, kommt aber letztlich nicht über den Stand der Dinge hinweg, den Sven Väth auf bislang drei Alben definierte. Doch das ist ja was: Alles nämlich fließt auf „Heaven“, alles ist luftig und leicht. Aber nicht „anspruchsvoll“, was ein Kompliment ist.
Counting Crows
„Across a Wire – Live in New York” (1998)
Noch ist das Werk der Ausnahmeband um Adam Duritz schmal. Drum schafft es schon ein pralles Doppelalbum wie dieses, es praktisch komplett zu reproduzieren – in Form zweier TV-Livekonzerte, eins akustisch für VH-1, das andere elektrisch für MTV. Wer auf große Gefühle und poetische Geschichten steht, wer Männerstimmen aufgewühlt zittern hören will und dazu tadellos geschlagene Gitarren schätzt, der sei herzlich willkommen. Der Gefühlskosmos der Counting Crows ist erfüllt von Pathos und fern von Humor; doch Tragik und Innerlichkeit wallen unplugged weniger als vollverstärkt. Das wird manche stören, andere freuen. Als Best-of-CD funktioniert „Across a Wire“ jedenfalls prächtig.
Crocketts
„We may be skinny & wirey” (1998)
Fast alles stimmt. Vor allem Haltung, Passion und Roheit des akustisch fundierten – ja, was eigentlich? – Cowpunks? Folkrocks? Welschen Powerpops? Jedenfalls besteht die Band um David Macmanus mit walisischer Starrköpfigkeit auf elektrische Ausbrüche aus melodischer Behaglichkeit und schaut manchmal mit ähnlich großäugiger kalter Panik aus der Wäsche wie die Violent Femmes. Eins aber ist wirklich schade: dass ihnen mit „Bluster Boy“ nur ein großer Song gelingt, der wie ein Fokussierspiegel alles zusammenführt, was stimmig ist an den Crocketts. Doch einige andere Songs sind an der Schwelle zu ähnlicher Größe. Daher: eine Band mit Potenzial.
Czech
„World Mad” (1998)
Was kann man mit dem Titel „Zeitweise schnellster Drummer Europas“ schon anfangen? Immerhin ist Speedmetal mausetot – und dafür Gregcore, der besagte Drummer, quicklebendig. Als er vor einigen Jahren die Sängerin Kate Pearl traf, pfiff er auf den Titel und gründete Czech (in Bremen!). Eine Entscheidung, ohne die uns eins der schönsten Alben aus dem Grenzbereich von TripHop, epischem Pop und Lounge entgangen wäre. Für den kanonartigen Refrain aus „Boxy Rhodes“ würden Moloko Amok laufen, und für die versponnene, klavierdurchhallte Tiefe ihres Sounds lieferte jede 4AD-Band ihr Label einem Major ans Messer. Und damit der Schönklang nicht das ganze Vergnügen trübt, flitzen Zerrgitarren und Feedbackfiepser kreuz und quer durch den Klangraum. Ein Album, das alles bietet – nur keine schnellen Drums.
Dan Bern
„Fifty Eggs” (1998)
Erinnert sich noch jemand an den Dylan von 1965, dessen Texte assoziative Achterbahnfahrten waren, der berstend vor Aggression durch die Welt lief und vor dem sich jeder duckte? Dan Berns Lyrik ist auf ähnliche Weise grandios und grotesk, und wenn er mit Muskelshirt und Springerstiefeln dasteht, die Akustische beackert und seine Poeme in die Welt spuckt, dann spüren wir eine ähnliche Energie. Wenn er dann die Gitarre weglegt und spricht, ist er ein sanfter Bulle mit leiser, hoher Stimme. Ein seltsamer Kontrast, ein faszinierender. Der Mann aus Los Angeles könnte fürs Songwritergenre so wichtig werden wie Dylan 1965, nur ist das Genre selber nicht mehr so wichtig. Pech für Bern. Aber er ist ein Glück für alle, die 08/15-Texte und -Entertainment satt haben. Hier ist ein Vulkan, und egal, wer ihn daran hindern möchte: Er wird ausbrechen.
Daúde
„# 2” (1998)
„Ich habe in einem Ghetto gelebt, in dem sich das Zirpen der Grillen, das Krähen der Hähne und die Geräusche aus dem Sumpf zu einer reinen Symphonie vereinten“, erinnert sich Sängerin Daúde. Später zog sie nach Rio und hörte sich quer durch die brasilianische Folk- und Popgeschichte, ergänzt durch Platten der Stones, von Serge Gainsbourg oder Stevie Wonder. All das steckt drin in ihrem zweiten Album, all das mischt sich zu einer kulturübergreifenden tanzbaren Melange, der man das Ghetto nicht mehr anhört. Doch in ihrem Gesang ist all das noch aufgehoben: Elend und Geborgenheit, Leid und Lebenslust.
David Olney
„Real Lies” (1998)
Gefragt nach seinen Lieblingskomponisten, zählte Townes Van Zandt auf: „Mozart, Lightnin’ Hopkins, Bob Dylan, David Olney.“ Die Kunst des Letztgenannten war manchmal verschüttet von Nashville-naher Leichtgewichtigkeit, doch jetzt traut er seinen Melodien, seiner Lyrik zu, die Songs wesentlich zu tragen. Und was braucht ein guter Texas-Song auch mehr? Olney hat seinen Stil gefunden, indem er seinem Singer/Songwriter-Fundus alles beimengt, was gut ist am US-Süden: Dixie, Texmex, R’n’B. Dazu singt er mit der vokalen Fülle eines Guy Clark, doch nie zittert er vor Pathos. Und in „Thirty Coins of Gold“ verbeugt er sich so tief vor Townes, wie der sich vor ihm verbeugte.
Days Of The New
„Days Of The New” (1998)
Als Kurt Cobain seine Karriere per Schrotflinte beendete, war Travis Meeks aus Louisville/Kentucky gerade 14. Heute, drei Jahre später, gelingt dem Buben mit seinen drei Teenagerkollegen eine fulminante Wiederbelebung des Grunge, die keiner mehr erwartet hätte. Unter der Ägide von Scott Litt, der – Achtung! – auch schon Nirvanas „Unplugged in New York“-Album produzierte, schleppt sich das Quartett konzentriert und bedrohlich durch sein Debüt. Der Clou: Ihr melodischer Grunge ist rein akustisch. Dass er dennoch Aggression und Härte abstrahlt, liegt an den Songs. Sie klingen so düster, als raunzte ein alter Wolf vom harten Leben in Alaska. Doch ein 17-jähriger Grungeschnabel hat sie geschrieben. Was ist nur los mit dieser Welt?
Duffy
„I love my Friends” (1998)
Dem Mitbegründer der stilbewussten Popband Duran Duran hätte man solch ergreifende Schlichtheit nicht zugetraut, aber der Song „The Postcard“ ist rührend und wunderbar. Stephen Duffy begleitet die Geschichte vom Verlust einer alten Freundin mit simplem Folkpicking – die Durchschlagskraft des Einfachen. „The Postcard“ beharrt selbst im Zeitalter der (mindestens) 24 Aufnahmekanäle darauf, dass ein großer Song auch im Kleinen funktionieren muss. Manchmal ist sein Pop nur nett – doch die 150 Sekunden von „The Postcard“ werden übrigbleiben wie Dylans „Girl from the north Country“ oder Van Zandts „Tecumseh Valley“. Ein einziger solcher Song ist viel für ein Album. Sogar für eine Karriere.
Elliot Smith
„XO” (1998)
Courtney Love schätzt Herrn Smith. Aber sie findet es blöd von ihm, dass er extra mit schlechten Musikern spielt, um ja nicht berühmt zu werden. Wird nichts nützen. Der gern im Dunkeln wirkende Songwriter steht wider Willen schon am Rand des Spotlichts. Er konnte die Bitte seines Freundes Gus van Sant nicht abschlagen, ein paar seiner Songs für irgendeinen Film verwenden zu dürfen, und dann kriegt der Streifen, „Good Will Hunting“, einen Oscar. Pech für Smith. Denn jetzt wollen alle mehr von ihm, sogar die alten verwuselten Alben werden neu aufgelegt, und für sein neues, „XO“, hat ihn der reichste Verlag der Welt an der Gurgel: Spielbergs Dreamworks-Label. Aus Elliot, dem Muffelmonster, wird jetzt wohl ein Star. Zumal seine früher verdrehten, schludrigen Songs plötzlich einen Popappeal entfalten, der Mr. Smith eigentlich ekeln müsste. Er wird jetzt noch berühmter. Mist.