Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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      Als Paul Horn 1968 im Taj Mahal Flötensoli improvisierte, roch das nicht nach kommerziellem Erfolg. Doch die Popularität östlicher Mystik in der Hippieära verschaffte dem Werk bis heute anhaltenden Ruhm. Paul Winters Solosaxofonprojekt scheint ähnlich zeitlos. Er blies seine Impressionen in die gigantische Schlucht des Grand Canyon, und der antwortete mit majestätischem Echo. Vögel und Grillen singen unbeirrt weiter, während Winters Sax der Melancholie der Zeitläufte nachspürt. Er ist ein Eindringling, verhält sich aber devot. Das musste damals auch Paul Horn versprechen, ehe man ihn ins Taj Mahal ließ. Zwei Alben, die man nebeneinander archivieren sollte.

      Pearl Jam

      „Yield” (1998)

      Eddie Vedder, Mike McGready und Stone Gossard schrieben seit seligen Grungezeiten Songs, die daraus bestanden, auf- und abzuebben – die Gezeiten des Lärms. Dieses Dogma der Dynamik begrenzte stets den Rockkosmos der Band aus Seattle. Auf „Yield“ versuchen sie von dieser oft prätentiös wirkenden Form wegzukommen, hin zu einfacheren Songs. Manchmal knüppeln sie nun – etwa in „Do the Evolution“ oder „MFC“ – auf einem konstanten Level los wie Motörhead in besten Zeiten. Und Vedders Quasiadoption durch die Vätergeneration der Dylan & Young schlägt sich in akustisch fundierten Balladen wie „Low Light“ nieder. Natürlich kommt auch das Epische („In Hiding“) nicht zu kurz. Ein hocherfreuliches Album, straight und melodiös, mit der stärksten Pearl-Jam-Single seit dem Debütalbum: dem wogenden, so bedrohlichen wie euphorischen „Given to fly“.

      Penelope Houston

      „Tongue” (1998)

      So schnell wie der Golfer Tiger Woods hat es wohl noch nie ein Aufsteiger geschafft, die Fantasie des Pop zu beflügeln. Auch durch Penelope Houstons neues Album geistert sein Name (nachdem unlängst auch Dan Bern dem Kunstschläger huldigte). Das Bedürfnis nach Helden ist offenbar ungebrochen; doch Frau Houston, einst aparteste Erscheinung der Neofolkszene von San Francisco, hat auch ihre Hassobjekte. In „Scum“ etwa wirft sie einem früheren Freund allen möglichen Unrat nach, und das zu süßem Folkpop. Mit diesem Album will die kühle Blonde das kuschelige Folknest verlassen. Das ist gut. Ob allerdings E-Gitarren und Stimmverzerrer ausreichen, im Haifischbecken Pop zu überleben, wird sich zeigen. Die gediegene Langeweile der letzten Alben hat sie jedenfalls überwunden.

      Propellerheads

      „Decksanddrumsandrockandroll” (1998)

      Sie sind die Alchemisten der Jahrtausendwende. Sie brauchen nicht mehr als ein Schlagzeug, eine Orgel und jenes wundersame Medium, das Zeitreisen erlaubt: den Plattenspieler. Davon haben Alex Gifford und Will White gleich vier auf einmal, um all das, was sie aufspüren im Steinbruch der Pop- und Scoregeschichte, in Form zu bringen, in ihre Form. Ihre Beats sind wirklich big, doch sie widerstehen der Versuchung, die Fülle der Sounds und Sprengsel, welche die Vinylgeschichte stellt, zum Wirrwar aufzuschichten. Ihre Stücke sind von strahlender Klarheit, ihre Klangschichten von reinster Transparenz, ihre Grooves mitreißend konsequent. Wir haben hier ein (Debüt-)Album, das Maßstäbe setzen wird. Es spricht von Bescheidenheit angesichts des Popkosmos und zugleich von der Macht über ihn. Gifford und White sind Alchemisten des Tanzes, Schamanen des Groove – und sie beweisen, dass ein flackernder Genius nicht notwendig in Größenwahn enden muss.

      Purple Penguin

      „Question” (1998)

      Wenn man dereinst die kleinen Nachtmusiken der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts erforscht, wird man sagen: Sie pulsten heftig, als habe sich damals das Leben beschleunigt, doch nie kamen sie ins Stolpern; sie schienen zu schweben, wurden auf den Wogen der Trompeten und des Scratchings durch die Nacht getragen und über die Pfützen hinweg, in denen sich die Leuchtreklamen spiegelten. Und die Stimmen, die man hörte, schienen von Menschen zu stammen, die an Häuserecken standen und mit sich selber redeten. Man wird diese Nachtmusiken mit dem Jahrtausendende in Beziehung setzen und ihre Coolness bewundern und sich davor auch ein wenig gruseln. Und dann werden sie vielleicht anfangen, ein wenig zu tanzen, die Archäologen der Zukunft.

      Rachel Morrison

      „Liberty” (1998)

      Frau Morrison ist ein Kind Fortunas. Erst Hits mit Bliss, dann Familienglück in Mittelhessen. Und jetzt eine (dritte) Soloplatte, die den Gemütszustand der inzwischen in London lebenden Sängerin aus Manchester gut widerspiegelt: fein arrangierte Liebeslieder, sanft groovender Pop, manchmal im Schlamm wühlender Soul. Morrison kann vieles, ihre Empathie für Stile und Stimmungen ist erstaunlich. Und immer, wenn ihr Songs wie „Positive Reaction“ gelingen oder „Sun won’t come down“ (einer von vieren, der im Film „Frauen lügen nicht“ auftuacht), hat man das Gefühl, sie könnte wieder erfolgreich sein wie einst mit Bliss.

      Rachid

      „Prototype” (1998)

      Dieser Typ ist Steve Winwood, Michael Jackson und Phil Collins in einer Person, ergo: der kommende Gigant des Soulpop (auch wenn er auf dem Cover guckt, als hätte man ihn beim Onanieren ertappt). Die Fakten: 24 Jahre jung, verwandt mit Kool & The Gang, Literaturstudent, Texter seiner Songs, Passion in jedem einzelnen Stimmband und eine Physiognomie zwischen Latin Lover, Drogendealer und Las-Vegas-Impresario. Rachid wird die Frauen verrückt machen. Er wird mit Songs wie „Sweet Charity“ die Charts aufmischen. Und Michael Jackson wird plötzlich komisch kurze Fingernägel haben. Wie abgekaut.

      Republica

      „Speed Ballads” (1998)

      Warum sollten nicht auch Republica die 80er wiederentdecken? Sie beginnen jedenfalls im Blondie-Stil, füllen alle Löcher, die noch zu stopfen sind, mit Chören und Jubelgesängen. Ihr dichter Sound aus Gitarren, Drums und Synthesizern strahlt einen Frohsinn aus, der fast anachronistisch wirkt. Umso erstaunlicher, als die Briten zwei harte Jahre brauchten, um ihrem Sensationsdebüt den Zweitling nachzuschicken. Es lag am Üblichen: die Tortur einer Tour, Erfolgsstress, bandinterne Probleme. Am Ende ging Keyboarder Andy Todd im Streit – die Befreiung. Jetzt pumpen sie ihren eingängigen Pop wieder in die Charts. Der scheint zu grinsen, als wäre er auf Prozac, doch vermutlich ist es einfach Speed.

      Semisonic

      „Feeling strangely fine” (1998)

      Wer sich „seltsam gut fühlt“, dem Frieden also nicht traut, und wer sein Album ausgerechnet mit einem Stück namens „Closing Time“ aufmacht, den muss man näher unter die Lupe nehmen. Semisonic bewegen sich auf gleichem Terrain wie Deep Blue Something, also im melodieseligen, fein arrangierten Gitarrenpop, nur fehlt ihnen halt noch der Hit. Ihr Album allerdings hat die US-Charts schon geentert – und das trotz manch eigenwilligen Drehs der Songs, einem überraschenden Streichersätzlein hie oder einem aufsprühenden Miniriff da. Die Lieder, die der Sänger und Gitarrist Dan Wilson uns singt, sind schön; und wenn eine Gitarre mal reinbratzt in diese Schönheit, dann zerstört sie sie nie. Das Album für einen verlorenen Sommer.

      Sheryl Crow

      „The Globe Sessions” (1998)

      Der Ritterschlag kam überraschend. Bob Dylan schenkte ihr „Mississippi“, einen Song, den er selbst nicht verwenden wollte. Sheryl Crow findet das „großartig“, doch richtig nötig hat sie His Bobness’ Huld nicht mehr – 13 Millionen verkaufte Alben und fünf Grammys sind eine gute Basis fürs Selbstbewusstsein. Ihre neuen Songs sind verschleiernd poetisch oder rücksichtslos persönlich, und sie schöpft alle Klangmöglichkeiten aus, die man als erfolgreiche Künstlerin nun mal verfügbar hat. Zwischen markigem Rock und filigranem Kammersong, zwischen Bläserpracht und atmosphärischer Wurlitzer-Duftmarke – die Sängerin zieht abgeklärt die Register. Doch jene Verschmitzheit, die ihrem „Tuesday Night Music Club“ einst beim Durchbruch half, ist irgendwo unterwegs verloren gegangen.