Folkgenies, das in den 20er-Jahren klassische Deltastile mit dem Songwritergenre verschmolz – zur Ursuppe des US-Folk. Morrissey interpretiert zeitlose Songs wie den „Coffee Blues“ mit brüchiger, an Ramblin’ Jack Elliott erinnernder Stimme und auf eindringliche Weise verhalten. Doch in der Tiefe glüht eine Inbrunst, die einem den Atem verschlägt. „He’s damn near definitive“, staunte die Village Voice einmal über den Mann aus New England, und das „near“ ist ein Wort zu viel. In seiner intimen, manchmal um Bläser, Klavier, Harmonika und Fiedel ergänzten Akustikinstrumentierung ist „Songs of Mississippi John Hurt“ eins der großartigsten Rootsalben seit Jahren, vielleicht aller Zeiten. Höchstwertung.
Bluezeum
„Put your Mind on hold” (1999)
Zwischen War, Curtis Mayfield und Latinflair fließt der entspannte Acidjazz von Adwin Brown dahin – angestaubt und zugleich modern. Seine Kennzeichen noch immer: die Unaufgeregtheit, das Raunende, Verhaltene. Der Erbe des Acidjazz von der Westküste hat sein instrumentales Spektrum jedoch erweitert. Bisweilen klingt Bluezeum wie ein erschöpfter John Lee Hooker, der bei Isaac Hayes auf Soul umschult. Und ein andermal wie eine Barcombo, die sich mit Caipirinha in Schwung bringt. Soullounge für den Sommer, wenn die Bars nachts die Türen auflassen und das Eis im Cocktailglas noch schneller schmilzt als sonst.
Built To Spill
„Keep it like a Secret” (1999)
Nein, dieses Geheimnis dürfen wir nicht für uns behalten: dass Built To Spill die größte Gitarrenband des Planeten ist – alle sollen es wissen! Sie haben die Größe und den Mut, mit der Stratocaster voran den Rock (doch noch) ins nächste Jahrtausend zu führen. Ihre Songs sind Hymnen euphorischen Lärms, aus dem majestätische Melodien aufsteigen. Ihr Chef Doug Martsch hält Feedbacks für ein Lebenselexier und Saitensoli für die Stimmen der Revolution. Noch die sanftesten Ausblenden sind ihm wie kleine Tode – bittere Kompromisse halt, weil sonst noch weniger Ideen aufs Album gepasst hätten. War das 1997er-Glanzstück „Perfect from now on“ ein ruhiger, konzentrierter Ausflug in die Randzonen der E-Gitarrenlandschaften, birst „Keep it like a Secret“ vor Dichte und Wildheit. Ein leidenschaftlicher Ritt auf den Wellenkämmen aller sieben Gitarrenmeere. Wer dieses Album 1999 toppen will, muss schon einen Crashkurs bei Neil Young buchen. Oder gleich bei Doug Martsch.
Bush
„The Science of Things” (1999)
Dass Steve Albini ihr letztes Album produzierte, war der Adelsschlag für das britische Quartett um Gavin Rossdale, der endgültige Credibilityschub in einer US-Szene. Die Produktion von „The Science of Things“ übernahmen sie nun selber, und die ersten Stücke klingen wie das größte Album der Dekade überhaupt: Nirvanas „Nevermind“. Roh, mächtig und stolpernd wühlen sie pathetisch im Rockschlamm, als tobte Kurt Cobain noch im Holzfällerhemd durch die Welt. Später injizieren sie dissonante Samples und verdreckte Elektronika, was das Ganze noch monströser macht. Bush wurden vom immensen Erfolg nicht korrumpiert. Im Gegenteil: Er machte sie zu den letzten Fackelträgern des Grunge. Manchmal muss man anachronistisch eben mit zeitlos übersetzen.
Caroline’s Spine
„Attention please” (1999)
In den 80ern hätte sich – aus politischen Gründen; Nato-Doppelbeschluss und so – keine Rockband getraut, auf einem Flugzeugträger zu spielen. Heute ist eh alles egal, und Caroline’s Spine hatten auch einen guten Grund: nämlich eine Einladung der US-Navy dank einer Single über fünf Brüder, die im Zweiten Weltkrieg umkamen, und zwar auf einem Flugzeugträger. Mit ihrer fünften CD „Attention please“ bitten sie um etwas, das sie bei rund 250 Gigs im Jahr in der Alternativeszene längst haben. Manchmal klingen sie wie Pearl Jam, die Alanis Morissette covern („Ready, set, go“), will sagen: Härte und Melodie verbinden sich wunderbar. Früher brauchten sie drei Tage für ein Album, heute ein halbes Jahr. Das Tolle aber ist: Man merkt es kaum.
Carter Burwell
„Gods and Monsters” (1999)
Entkleidet aller Folkelemente, die seine Musiken für die Coen-Brüder („Fargo“) prägten, stößt der Scorekomponist Carter Burwell zu einer dunklen Sinfonik vor, die er mit den jüngeren Werken Mark Ishams teilt; dessen neuestes Werk „At first Sight“ ist dafür ein gutes Beispiel. Beide Komponisten sehen Filme gleichsam durch einen Zeitfilter: als bewegten sich die Bilder langsamer, als wir sie sehen. Es sind Soundtracks, die zum Innehalten zwingen, retardierende Momente in einer Zeit hochfrequenter Schnitte. Mit dem auf Überwältigung setzenden Dschingderassabumm eines John Williams haben sie nichts zu tun; in dramatischen Momente halten ihre Orchester stattdessen den Atem an.
Chaser
„Game on!” (1999)
Der Albumtitel des schottischen Duos klingt wie eine Parole – für die Fortsetzung des Techno mit anderen Mitteln. Zwischen Daunendeckenlounge mit Jazzflair und schläfrigem House, der selbstvergessen vor sich hin tuckert, bewegt sich ihr Klangspektrum – als seien die Clubs nunmehr verwunschene Orte, wo die Zeit stillsteht und die Leiber sich träumerisch drehen und nicht in Ekstase. Diese Musik wird angetrieben von der Suche nach einem neuen Sinn im puren Sound, nach klanglicher Substanz, wo bislang reine Oberfläche herrschte. Sie führt weg von den biologischen Automaten unter dem Diktat des 4/4-Zuckens und postuliert hinhörende Geistwesen, die AUCH einen Körper haben. Das Spiel geht weiter.
Chris Rea
„Road to Hell – Part II” (1999)
1989 räumte Chris Rea mit „Road to Hell“ mächtig ab. „Part II“ ist nicht nur thematisch (es geht wieder um Autos und ihre Bedeutung) ähnlich; Rea möchte natürlich den Erfolg wiederholen, auf zeitgemäße Weise. Also wird der Sound generalüberholt: Seiner Raspelstimme und unverkennbaren Slide gesellen sich Raps, Samples und pumpende Beatloops zur Seite. Doch meint man dem britischen Kuschelbären anzumerken, dass es Umgebungen gibt, in den er sich wohler fühlt. Nachdem er schon sein 98er-Album „The Blue Café“ mit Blick auf den Musikgeschmack seiner Töchter eingespielt hatte, dürfte die Mrs.-Rea-Riege diesmal sehr zufrieden sein. Nur die 40-Jährige Oberstudienrätin, die einst lächelnd in den „Shamrock Diaries“ blätterte, wird vielleicht doch lieber die neue Clapton kaufen.
Chris Zippel
„Genuine – Nu Ambient Grooves 2” (1999)
Der Titel des ersten Stücks lässt Furchtbares ahnen. Er lautet „Wo ewig meine Seufzer wallen“, führt aber auf die falsche Fährte. Denn Chris Zippel schafft voluminöse, dennoch klar zu durchschauende Ambientscapes voller tuckernder Beats, die ungestört bleiben von Texten, wie sie Stücke haben könnten, die „Wo ewig meine Seufzer wallen“ heißen. Nur einige Dialogsamples aus trashigen Science-Fiction-Filmen hallen durch die Weite, und Zippel allein weiß, warum er manch packende Soundidee schon nach wenigen Minuten wieder auslaufen lässt. 16 Stücke in 74 Minuten! Warum nicht die vier besten in epischer Breite mit sukzessive hypnotischer Wirkung, wie es nun mal zum guten Ton gehört in Ambientkreisen? Lass Dir mehr Zeit, Chris. Wir nehmen sie uns dann auch, versprochen.
Chuck E. Weiss
„Extremely cool” (1999)
„Er singt“, krächzt Tom Waits, „als sei der Teufel hinter ihm her.“ Weil Waits mit dolvhrn Situationen sehr vertraut ist, übernahm er auch gleich einen Teil der Gitarrenarbeit und die Produktion für seinen Langzeitkompagnon. Durchaus zum Schaden des Betreuten. Denn Weiss’ schmutziges Blues- und Swampalbum ist ein Beispiel dafür, wie spurlos das eigene Gesicht hinter der Mimese verschwinden kann. Dass Tom Waits dies sogar förderte, muss mit Eitelkeit zu tun haben: Er hat sich sein Ebenbild geklont. Da Tom aber mindestens tausend Flaschen Bourbon Vorsprung hat, wird Weiss doch nicht ganz zu Waits. Fazit: Für Menschen