Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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Aber was ist das alles gegen ein Monsterriff? Gegen Dampfwalzendrums, mit denen dEUS ihr bislang zugänglichstes Album ausklingen lassen? Nichts, mögen die wenigen alten Fans protestieren. Viel, sage ich.

      Dot Allison

      „Afterglow” (1999)

      „Colour me“ klingt wie Portishead auf Prozac. Die Welt ist schmutzig, aber man kann sauber bleiben – als Engel. Beim ätherischen „Tomorrow never comes“ bringt die Schottin Dot Allison eine Steelgitarre ins Spiel, als trüge dieses Instrument keine Klangklischeelast mit sich herum, die so schwer ist wie sämtliche goldenen Schallplatten Nashvilles. Allison, früher bei One Dove, schreibt und arrangiert verwunschene Songs zwischen Nico, Psychedelia und TripRock, die in den besten Momenten wie gute Mantras sind und in den schlechtesten (gegen Ende des Albums) wenigstens noch als Wiegenlieder taugen. Von diesem Joint sollten Portishead mal eine Prise schnupfen: Sie sähen mit ganz anderen Augen in die Welt.

      Doug Wimbish

      „Trippy Notes for Bass” (1999)

      Für Mr. Wimbish ist sein Bass ein fliegender Teppich, und er flog damit viele Trips: nach Osten und Westen, durch die Canyons der Elektronik und die weiten Länder des Dub und Jazz. Beim Mitreisen wundern wir uns wieder einmal über die schillernde Biografie dieses Mannes. Einst rührte er die Ursuppe des Rap mit an in der Sugarhill Gang, brachte später den Funkrock von Living Colour zum Kochen, ehe er beim On-U-Label zum elektronischen Dub-Alchemisten wurde – und daran knüpft er an, wenn er introvertierte Soundscapes malt, die Ost und West, Elektronik, Dub und die Klagegesänge des Orients an einem Ort der Welt versammeln. Ganz schön klasse für einen Bass.

      Edsilia

      „Edsilia” (1999)

      Manchen ist schon eine Janet Jackson zu viel. Andere können von diesem Sound gar nicht genug bekommen – und mal ehrlich: Er bildet auch die Messlatte im R’n’B-Genre. Für die holländische Debütantin Edsilia liegt sie vokal nicht zu hoch. Erstaunlich abgeklärt für ihre 21 Jahre groovt sie mittelschnell durch butterweiche Arangements, die lieber mal was weglassen, als nach einem (eh nicht vorhandenem) Millionenbudget klingen zu wollen. Der Textschwulst – „I believe in destiny/in you and me“ – gehört aber natürlich genauso dazu wie kleine Vibrati an den richtigen Stellen. Janet Jackson hat’s ja vorgemacht, da muss man mit.

      Elektro Star

      „The Future was yesterday” (1999)

      Nicht jeder, da hat ein Kollege völlig recht, kann Japaner sein. Doch selbst der Hesse vermag sich bisweilen wie einer zu fühlen … Es ist schon kurios: Da haben japanische Popbands wie Pizzicato Five in den letzten Jahren die komplette westliche Popkultur seit den 50ern im Eiltempo verschlungen, als gäbe es sie morgen schon nicht mehr, und sie im Studiolabor zum latinesken Mickymauspop vermischt, der seither in den Loungeclubs zwischen Lüneburg und Las Vegas für Lebensfreude sorgt. Und Elektro Star aus Frankfurt finden dieses japanische Modell klasse genug, um es kurzerhand nachzuahmen. Wo Anfang und Ende dieses unendlich verknoteten Eklektizismus ist, weiß längst niemand mehr. Wichtig ist ja auch nur, wie es klingt. Unterm programmatischen Titel „The Future was yesterday“ revitalisieren die Frankfurter die Zukunftsvorstellungen der 50er und 60er, wandeln die naiven Glücksvisionen des Spaceage in niedliches Elektrolistening, das auch mal mit Drum & Bass im Hier und Heute festgezurrt wird. Eine schöne, sämige Mischung aus analogen und digitalen Geräten, aus Pornosoundtracks und Dialogfetzen aus Zeiten, als wir noch jene Zukunftwesen waren, denen man alles technikgeborene Glück der Erde verhieß. Was daraus geworden ist, wissen wir ja. Aber die verstaubten Visionen von gestern rühren uns doch.

      Ensemble Avantgarde

      „Steve Reich” (1999)

      Pünktlich zur Reich-Renaissance erinnert das Ensemble Avantgarde an vier Originalmusiken wie „Phase Patterns“ für vier Orgeln oder „Piano Phase“ für zwei Klaviere. Die Berliner inszenieren ihren Minimal-Music-Helden klassisch – dazu gehört auch, dass an mancher Schnittstelle sich anvisierender Muster nicht sicher ist, ob es gerade partiturgenau holpert oder nur versehentlich. Fürs Erstere hatte Steve Reich ja die Mathematik. Der Mehrwert dieser Musik entsteht allerdings erst, wenn ein so unmathematisches Wesen wie der Mensch sich ihrer annimmt. Roboter könnten Reich problemlos aufführen, aber zu welchem Zweck? Erst das Lauern und Lauschen auf die kleinen „Fehler“ bahnt den wundersamen Weg zur Faszination.

      Esbjörn Svensson Trio

      „From Gagarin’s Point of View” (1999)

      In Schweden verkauft das Trio etwa dreimal so viele Alben wie vergleichbare Jazzacts – dabei kokettiert es weder mit Pop noch modisch mit Dance. Aber der Pianist Svensson und seine Mitspieler Magnus Öström (dr) und Dan Berlund (b) haben das Fluidum, die impressionistische Wärme eines Jacques Loussier genauso drauf wie das Selbstvertrauen Keith Jarretts oder die Wildheit des Rock. All das in den Grenzen des Klaviertrios – die sie freilich flugs neu definieren. Ihr großes Plus: Sie brauchen sich ihren Ruf nicht mit Standards zu erkämpfen; der Fingerkünstler und Björk-Fan Svensson ist selbst ein begnadeter Songschreiber. In Schweden heimste er schon fast alle Preise ein, die es zu gewinnen gibt für einen wie ihn. Bei uns steht ihm das noch bevor. Ein heißer Kandidat auf einen Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Gegenwetten …? Wusst ich doch.

      Even

      „Come again” (1999)

      Ashley Naylor gibt alles zu. „Ja, ich bin nostalgiesüchtig“, sagt er, und weil der Australier die Songs seiner Band Even schreibt, verwirft er die Idee nicht, manche Gitarre nach Byrds und manchen Harmoniegesang nach den Flowerpot Men klingen zu lassen. Warum sollte er auch? Waren schließlich gute Bands – wie so viele Pioniere der 60er und 70er, die sägende psychedelische Klampfen und Backgroundl-Lalas in den modernen Klangkanon einführten. Naylor stöbert hingebungsvoll in den alten Kisten und weist seinen Drummer Matt Cotter strikt an, den Rhythmusgitarrentakt synchron und polternd zu verdoppeln. Wie damals halt. Dabei entsteht ein dichtes, halbelektrisches Retroalbum mit treffendem Titel, das nicht die stärksten Songs der Welt im Gepäck hat – dafür aber in limitierter Ausgabe noch einige rare B-Seiten. Für ein Zweitwerk sehr passabel.

      Faust

      „Ravvivando” (1999)

      Dieses Album liegt schwer im Magen. Nicht, weil der von Verzerrern und Noise getragene Industrialrock von Faust so unverdaulich wäre. Sondern weil die Stilmittel der einstigen Krautavantgardisten auf dem zweiten Comebackalbum ziemlich altbacken sind. Ihre Moogschlieren sind auf dem Niveau der 70er, ihre Feedbacks hatte schon Hendrix komplett so parat. Das wäre kein Problem, würde die Band das filtern im Stil der 90er; doch ihr fehlt die Reflexionsebene. Am Ende, beim hypnotischen „t-électronique“ sind wir kaum weiter, als es Tangerine Dream 1975 waren. Faust glauben, nach vorn zu schauen, haben aber einen kaputten Kompass in der Tasche. Nur etwas für humorlose Althippies, die noch immer hinten die Matte lang tragen, obwohl oben längst die Platte wächst.

      Friedemann

      „Passion and Pride” (1999)

      Bei Friedemann fallen einem nur kulinarische Metaphern ein, aber das ist wenigstens genauso abgedroschen wie seine Musik. Also: Aus softer Fusionbrühe, altem spanischem Chili und einer Tüte „Easy Listening“-Instantpulver mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum rührt der Komponist seine fade Suppe an – serviert sie aber, als sei sie Kochkunst mit drei Sternen. Sicher, schön dekoriert ist sie, aber die Substanz fehlt, das merkt man gleich beim ersten Löffel. Mit „Aquamarine“ lieferte er einst ein Meisterstück des New Instrumental: geleckt, aber spannend, easy, aber in vielen Farben schillernd. An „Passion and Pride“ aber kann man nur eins loben: die Leichtverdaulichkeit.

      George Michael