Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


Скачать книгу

      „Néapolis” (1998)

      Stadionrocker in der inneren Emigration: Jim Kerr und Charlie Burchill haben mit dem Label auch die Attitüde gewechselt, sich von Transglobal Underground Groovenachhilfe geben lassen und hinüber gelauscht nach Kontinentaleuropa, wo gerade alles auf Trance und Krautrock stand. Wie Jim Kerr die Zeilenenden aushaucht, das erinnert mehr denn je an Bono (oder erinnert Bono an Kerr?), und das locker trabende Rhythmusgefüge hat ebenfalls viel von U2. In die Bandgeschichte könnte „Néapolis“ als das kompakteste ihrer Alben eingehen. Was bedeutet: Sie stecken wenig Energie in Highlights, alle in (elektronische) Homogenität. Und trotzdem ragen zwei Songs heraus: „War Babies“ und das mit bestechendem Refrain versehene „Killing Andy Warhol“. Beide würden auch im Stadion funktionieren.

      Stina Nordenstam

      „People are strange” (1998)

      Es gibt schon seltsame Leute, stimmt. Und zu den seltsamsten gehört die scheue Stockholmerin Stina Nordenstam. Boris Plank, für dessen Band Yello sie mal ein Lied sang, erzählt, sie sei angereist, habe gesungen, sei abgereist. Kaum ein Wort; ein Gespenst aus dem Norden. Um so erstaunlicher, dass eine derart verkapselte Künstlerin sich nun, auf ihrem vierten Album, fremder Kunst zuwendet. Stina covert! Und wie. Manche Instrumentalspur klingt, als schabten zerklüftete Eisberge aneinander. Sie entbeint Songs wie „Love hurts“, wirft ihrem innersten Kern Lumpen über, bestreut ihn mit Staub und fiept dazu auf einzigartige Weise: fragil und verschliert wie ein Kind, das einsam auf einer Klippe sitzt und Wiegenlieder singt für seinen unsichtbaren Freund, an den keiner sonst glaubt. Manchmal plinkert roh ein Kinderklavier, manchmal schaut ein Streichquartett vorbei – und oft, wie bei „Purple Rain“ oder „Bird on the Wire“, brodelt eine raunende, beunruhigende Noisespur unter Stinas Flüstergesang. Irgendwo im Reich Scott Walkers siedelt sie, eine Monade im Nichts. Und diese Platte ist das seltsamste Stück großartiger hermetischer Musik seit Nicos „Marble Index“.

      Tanita Tikaram

      „The Cappuccino Songs” (1998)

      Der „Twist in my Sobriety“ ist zehn Jahre her. Tanita Tikaram spielte seither einige Alben ein, doch kein so gutes wie jetzt. Das liegt an seiner reizvollen Altmodischkeit: keine Grooves, keine Samples, kein Hinternlecken bei den 16-Jährigen. Sie hat sich für einen veralteten Stil entschieden, der mit seinen manchmal antizyklisch platzierten Streichern an den Westcoastpop der 70er erinnert. Und ihr verschleierter Gesang über Beziehungskisten legt sich matt in diesen Sound. Wenn sie „I’m happy to be with you“ singt, scheint sie keinen Lover zu meinen, sondern ihren Tranquilizer. So singt niemand sonst! Kein Muntermacheralbum, aber sicher eine gute Freundin für die nächsten Jahre.

      The Artist

      „New Power Soul by New Power Generation” (1998)

      Also, das ist das neue Album des Typen, der früher Prince hieß, dann als „Symbol“ im Gespräch war, sich schließlich „The Artist formerly known as Prince“ rufen ließ oder, weil das zu umständlich war, kurz T.A.F.K.A.P., was er nun zu „The Artist“ verdichtet. Musik macht D.U.D.L.S.E.P.P.L. („Der Urige, Der Larifari Spielt, Seit Er Prince Platzen Ließ“) seit seiner Identitätskrise nicht mehr so dolle – um aufzufallen, muss er sie schon übers Internet vertreiben –, und die Plattenfirmen wechselt er inzwischen so oft wie einst die Gespielinnen. Auf seinem neuen Album indes bemüht er sich um alte Stärken: scharfen Jazzfunk mit vielen Sidesteps, klare Songs und heiße Hooklines, schroffe Bläser und Bässe. Doch alles klingt nur solide, handwerklich sauber, fein wegproduziert – und ziemlich belanglos.

      The Band

      „The Jubilation” (1998)

      Sie sind die Lordsiegelbewahrer uramerikanischer Musik, und selbst in der (um Robbie Robertson) reduzierten Besetzung klingen sie nach dem Schlamm des Mississippi, dem Ächzen der Güterzüge und dem Wind in den Baumwollfeldern. Für Eric Clapton und John Hiatt ist es natürlich eine Ehre, mitzuspielen. Levon Helm, der singende Drummer, will so gute Songs schreiben, „dass du es nicht aushalten kannst, sie nicht zu hören“. Das ist der Band in der Vergangenheit schon oft geglückt, etwa mit „The Weight“ oder „It makes no Difference“. Und diesmal, mit ihren mandolinentrunken Arrangements, sind sie zumindest oft verdammt nah dran.

      The Bogmen

      „Closed Captioned Radio” (1998)

      1996 raunte mancher von den „neuen Talking Heads“, doch das Debüt war wohl zu ideenreich, um entsprechenden Erfolg zu haben. Und vielleicht hat der Sänger Bill Campion doch zu wenig Wahnsinn in Stimme und Augen, um die Massen so zu hypnotisieren wie David Byrne. Doch musikalisch gibt es Gemeinsamkeiten. Die Bogmen – vier Amerikaner, ein Kanadier – spielen geschmeidigen Collegekunstrock, dessen dunkle Seiten in der Tiefe der Arrangements lauern. „Wir sprechen zu den Verlorenen, den Marginalisierten“, prahlt Gitarrist Bill Ryan drei Spuren zu pathetisch, aber so wie der Mann Gitarre spielt, würden wir ihm ganz andere Sachen durchgehen lassen. „Tu deinem Hirn einen Gefallen“, raten die Bogmen, „nutz es oder lass es.“ Okay.

      The King

      „Gravelands” (1998)

      Sein Prinzip ist simpel: Er verkleidet sich als Elvis und covert in dessen Stil fremde Songs, aber nur die von Toten. Der letzte, der sich so fürs King-Repertoire qualifizierte, war Brian Connolly („Blockbuster“). Was anmutet wie die morbid-schrille Idee eines Presley-Lookalikes, entpuppt sich als ernste Coverkunst, die der Ire mit Inbrunst rüberbringt. Wenn er Tim Buckley singt, hört sich das an, als würde Buckley Elvis singen. Oder umgekehrt. Und wer seine Fassung von Ian Curtis’ „Love will tear us apart“ gehört hat, begreift, wie nah dieses Stück auch dem Fetten aus Memphis gewesen wäre, hätte er es noch erlebt. Den einzigen Witz, den der King sich leistet, ist der Albumtitel. „Gravelands“ für Graceland. Höhnisches Höllenlachen. Und Abgang.

      The Pursuit Of Happiness

      „The wonderful World of” (1998)

      „Ich wollte ein Album machen“, sagt Moe Berg, „das die Leute von Anfang bis Ende durchhören können.“ Als Gitarrist, Sänger, Songwriter und Coproduzent der kanadischen Indieband kann der Mann das ja durchaus beeinflussen. So rast er zum Behufe der Durchhörbarkeit wie sein Landsmann Villeneuve durch die Popgeschichte und legt überall, wo es sich lohnt, kurze Boxenstops ein. Effekt: Die wundervolle Welt von POH klingt mal nach burleskem Beatfrohsinn („Metaphor“), Sekunden später nach Punk („She’s the devil“), und zwischendurch taucht als Tankwart Brian Wilson auf, derweil das Cover mit japanischen Schriftzeichen verwirrt. Ehe wir indes an Reizüberflutung dahinsiechen, ist das Album zu Ende – und wir haben’s durchgehört, in einem Rutsch.

      Tortoise

      „TNT” (1998)

      Auf „TNT“ finden sich gewaltige Klangarchitekturen, doch es ist nichts weniger als explosiv. Nein, es flüstert und wispert tausendstimmig, und was man hört, sieht aus wie verwobene Spinnennetze. Und manchmal hängt einer der Seidenfäden noch lose in der Luft, was egal ist. Trotz seiner sanften Komplexität birgt „TNT“ für die Rockmusik – und den Jazz – enorme Sprengkraft. Vor zwei Jahren legten Tortoise mit „Millions now living will never die“ die erste ausgereifte Definition dessen vor, was seither als „Postrock“ ein erstaunliches Leben führt. Damals kümmerten sich die US-Dekonstruktivisten sogar noch ums Skelett ihrer eigenen medialen Vermittlung, fügten die schabenden Sounds defekter CDs ins Klanggebäude ein. Ihre instrumentalen Trips aus Gitarre, Bass, Drums und Cameos von Orgel, Vibrafon und Samples trippeln über den Friedhof der Ausdrucksformen des Rock und Pop, ihre Behendigkeit ist angemessen melancholisch. Postrock á la Tortoise hat kein Ziel und keine Message. Er ist nur noch Klang und Struktur, ist dunkel und ein wenig traurig. Sanftes Geklöppel. Milleniummusik.