Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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kühler Melancholie stößt man auf die größten Schätze noch immer in den frühen 80ern. Essen bestehen aus Darren Moss und Paul Robinson, und sie kommen aus dem Dunstkreis der Sneaker Pimps, streben aber weg vom TripHop – und landen am Gartenzaun von Icehouse. Ihr Klangkosmos ist so tief und blau wie das Meer, das sich über die ganze Breite des aufgeklappten Booklets erstreckt; ihr Piano klingt wie das aus der Bar am Ende des Universums. Klar, dass Tralalatexte tabu sind bei so viel cooler Traurigkeit, in der gut tauchen ist. Also geht es um „God & The Devil“, um „Sleep“, den „King of the Rain“ und, schließlich, ums „Amen“. Doch keine Angst: Dieses Album ist – trotz aller Sample- und Klangfinessen, trotz seiner streicherartigen Wogen und den flüsternden, zischelnden Beats – gar nicht prätentiös. Sondern tiefblau. Wie ein Film von Derek Jarman.

      Finitribe

      „Sleazy Listening” (1998)

      Sie legen das Album vor, das Tricky nicht mehr gelingen will. Raunenden, von dumpfen Drums durchrollten TripHop füllen sie mit Folkgesang und Rezitationen, und lässig veredeln sie manchen Groove mit süßen Geigen. Salonmusik goes Bristol – dabei kommen Finitribe aus Schottland und sind seit 16 Jahren im Geschäft, was die Souveräntät der Mischung erklärt. Jungen Hüpfern wäre das Ganze wahrscheinlich entglitten, bei Finitribe klingt das wie aus einem Guss. Ihre Musik steht für den grenzenlosen Zugriff auf viele geomusikalische Traditionen und dafür, wie man dabei den Überblick behält. Ein junger Hüpfer wie Tricky hat ihn verloren.

      Fury In The Slaughterhouse

      „Nowhere … Fast!” (1998)

      Sie müssen dagesessen haben mit diesem ziellosen Durchschnittsalbum, das sich mal halbherzig am Ska versucht („Balm for the Soul“), mal mit Drummaschine zur Akustischen Hipness vortäuscht, es aber nicht übers Niveau einer späten Dire-Straits-Schnulze schafft („Romeo & Juliet“), sie saßen also da und wussten wahrscheinlich nicht, wie das ungeratene Kind nun heißen soll. Oh je, die Journaille, könnte Kai-Uwe Wingenfelder gejammert haben, die wird uns mächtig rannehmen. Warum ironisieren wir nicht präventiv – denn Fury sind schlau, richtige Kopfrocker – die Reaktion der sog. Kritiker und nennen die CD einfach „Nowhere … Fast!“? Einen Moment mag es still gewesen sein, ehe die Restband losjubelte: „Wahnsinnsidee, Kai-Uwe!“ Und wirklich: Wahnsinnsidee.

      Gandalf

      „Barakaya” (1998)

      In den 80ern gelangen dem Gitarristen Gandalf entspannende, klangvolle Instrumentalalben, die sich als TV-Pausenfüller genauso eigneten wie zur Einstimmung auf traute Abende zu zweit. Jetzt, beim Sattva-Label, ist der Komponist indianophil geworden, lässt sich vom Kometen Hale-Bopp inspirieren und schwankt wie trunken zwischen Muzak, Ethno und Esoterik. Manchmal gelingen ihm atmosphärische Klangbilder im Ambientstil, ein andermal beamt er uns in den Karstadt-Hausaufzug. Nie trübt ein Stäubchen den Schimmer dieser Politur, und wenn die Gastmusikerin Emily Burridge alias White Horse die Celli und Vocals arrangiert, geht Worldbeatromantikern der Medizinbeutel unterm Poncho auf.

      Gidon Kremer

      „Le Cinéma” (1998)

      Kremers Geigenspektrum ist extrem, es reicht von Beethoven bis Stockhausen. Und der Lette ist Kinofan, Scorekomponisten schätzt er ebenso. Allerdings ist seine Auswahl hier ziemlich klassisch und weniger wagemutig als im E-Bereich: Chaplin („Smile“), Schostakowitsch („Romanze“) oder Rota („Improvviso“). Er spielt mit der Hingabe des Bildersüchtigen, mit jener rührenden Wehmut und Wärme, die etwa Chaplins sentimentale Meisterwerke vorm Kitsch retteten. Sein Schmelz wird fein abgefedert von Oleg Maisenberg am Piano; so kommt auch Verschmitzheit nicht zu kurz. Ein Album fast so schön wie Chaplins „Zirkus“.

      Goldie

      „Saturnz returnz” (1998)

      Der Junglegott ist zurück aus der inneren Emigration, und siehe, dort empfing er die neuen Breakbeatggebote, und eins davon verkündet: Es muss nicht immer tuckern und pluckern. Für das mehr als einstündige „Mother“ engagierte Goldie gar ein Streichorchester und schichtet das Präludium zum Monument von wagnerianischer Wucht auf, ehe nach 21-einhalb Minuten der erste Beat pocht. „Es ist nicht einfach, aus mir schlau zu werden“, gockelt Goldie. Hier will einer endlich so ernst sein, wie er längst genommen wird – und dabei kommt nichts weiter raus als ein Heißluftballon. Gut, dass „Mother“ nur die Hälfte des Doppelalbums ausmacht, dass auf der anderen hochmelodischer Drum & Bass pocht, mit Bowie, Noel und KRS One als Gaststars und allen Seitensprüngen zwischen Industrial, Jazz und Easy Listening, die das Genre nur erlaubt. Diese Stücke räumen dann wie Rennie den Magen auf – kurieren aber trotzdem den Blähbauch nicht richtig, den „Mother“ uns eingebrockt hat.

      Grant Lee Buffalo

      „Jubilee” (1998)

      Selten war ein Albumname so sehr Programm wie auf dem vierten Album der US-Band. Ihr mahlender, langsamer Folkrock wogt so verzweifelt euphorisch dahin wie nie. Der aus 14 Songs bestehende Zyklus ist ein großer Hymnus in der Nacht, vorgetragen mit der Kraft des Soul, und mit Stücken wie „Truly, truly“ knüpfen sie wieder an die große kompositorische Qualität ihres Erstlings „Fuzzy“ an. Wie anerkannt die Band um Sänger Grant Lee Phillips inzwischen ist, zeigt die Zahl der gern vorbeischauenden Gäste: Michel Stipe, E oder Robyn Hitchcock steuerten Kleinigkeiten bei. Wäre aber nicht nötig gewesen; GLB sind inzwischen selber groß.

      Haindling

      „Zwischenlandung” (1998)

      Der bayerische Querkopf Hans-Jürgen Buchner, ein Wilderer in den Wäldern von Folklore und Freistil, wechselt gern den Forst. Diesmal seziert er zum Humtata der Blosmusigg die deutsche Sprache und ihre Floskeln, spricht über Liebe in Anführungszeichen, und dann packt ihn doch wieder wilde Experimentierlust, was sogleich zu weltmusikalischen Ausflügen führt. Bei Haindling haben Bayern und China eine gemeinsame Grenze, genauso Ambient und Mundart-Reggae. Und wer außer Buchner weiß schon, dass die Ägypter eine besondere Art haben, Tamburin zu spielen? Hier führt er’s vor, insgesamt weniger skurril als früher, manchmal gar schier easy anzuhören, aber allemal auf- und erregend wie sonst wenig, was aus Bayern kommt.

      Hazeldine

      „Diggin’ you up” (1998)

      Sie hätten ein bequemes Leben zwischen Albuquerque und Austin haben können, hätten allabendlich in irgendeiner schäbigen Bar für freie Getränke und zwei, drei Hunnies ihren Set spielen und dabei glücklich sein können. Ist schief gegangen. Denn Hazeldine sind unversehens berühmt und müssen ihren unverwässerten, Wüstenrock jetzt auch zwischen Bottrop und Buxtehude spielen, also – zumindest klimatisch gesehen – fern der Wüste. Doch die tragen sie eh im Herzen, und wenn Tonya Lamm ihre E-Klampfe schrammelt und davon singt, wie es ist, „allergic to love“ zu sein, dann dringt uns das bis ins Mark. Ein konzentriertes, vor flirrender Hitze träges Album, das Neil Young genauso gefallen wird wie Vic Chesnutt. Es wird sie noch weiter wegführen von Albuquerque. Noch weiter weg von einem bequemen Leben.

      Ian Brown

      „Unfinished Monkey Business” (1998)

      Die Stone Roses waren die die beste Band Britanniens, sie wurden berühmt und groß – und hätten auch eine Art Oasis-Wunder schaffen können, wäre die Band stabiler gewesen. Der Crash kam 1996, doch war er nicht laut genug, als dass die alten Kollegen Ian Brown auf seinem Soloalbum nicht unterstützten. Darauf unterlegt der Gitarrist seine sägenden Läufe mit Marschtrommeln, Akustikgezupfe mit Tablas und kreiert somnambulen Spacerock – als hätten Marc Bolan und Edwyn Collins Tranquilizer geschluckt, um eine Überdosis Ecstasy auszubremsen. Diese seltsame, ortlose Vielfalt gibt dem Album etwas Unwirkliches, das an Julian Cope oder Bauhaus erinnert. Ganz fest vertäut dagegen Browns political correctness: