Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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Busch. Seine typisch eiskalte Hektik, die einen entweder betäubte oder kirre werden ließ, weicht nun einer gewissen Wärme, analoge Klänge lugen aus dem Dickicht. Doch keine Panik: Wenn der komische Vogel wirklich will, dann klingen seine Breakbeats noch immer absurder als alles andere auf der Welt – Beweis: das Ende von „Wind from Nowhere“.

      Dave Matthews Band

      „Listener supported” (2000)

      Ein Jazzintro: freie Perkussion, ein jammerndes Sax. Erst allmählich kommen jene Stile ins Spiel, die, wohltemperiert gemischt, der Band aus Virginia den immensen US-Erfolg bescherten: Folk, Rock, Country, Latinflair. Dennoch werden die Studioalben überschätzt; erst live, wie auf dieser Doppel-CD, erschließen sich die Gründe der Matthews-Mania. Sie liegen im ausufernd improvisierten Spiel, im Abzweigen auf jene mäandernden Straßen, die einst Grateful Dead planierten. Man spürt, wie beseelend ein solcher Konzertabend sein muss, trotz des mittelmäßigen Gesangs von Matthews. Doch es ist eben die pulsierende, verschachtelte Instrumentalspur, welche die Band auf die Bühne legt wie kaum eine andere. Grateful (Half-)Dead.

      David Carretta

      „Le Catalogue Electronique” (2000)

      Fronkreisch, du hast es gut: Die Houseszene boomt, gallische Elektronik ist ein Hinhörer. Carretta kommt aus Toulouse, vom Rand also, und sein „Catalogue Electronique“ wirkt, als hätte er seine Sounds und Beats nur geschaffen, um ihnen anschließend drei Viertel der Substanz wieder wegzuschneiden. Übrig bleibt ein gleichsam zweidimensionaler Technohouse, der nirgends in die Tiefe geht. Abgehackte Beats grundieren bläserhafte Synthieschlieren; manchmal nähert sich das emotionslose Gewusel gar scheu der Musik von Steve Reich oder den selbstgebastelten Klängen des frühen Wave. Spröde, schroff und packend – ein Gegenentwurf zur Listeningseligkeit, die ja ebenfalls ihre Basis in Frankreich hat.

      David Gray

      „White Ladder” (2000)

      Wenn einen Joan Baez zum „bedeutendsten Dichter seit Bob Dylan“ ausruft, muss das nicht unbedingt erhebend sein. Es könnte sich schließlich a) um den unangemessenen Annäherungsversuch einer ergrauten Folkdame handeln und b) zu einer Bürde werden, die man für den Rest seiner Karriere nicht mehr los wird. David Gray hat auch so seine Probleme gehabt in der Vergangenheit, doch jetzt ist alles fantastisch: Sein Album ist voller brillanter Songs wie „Babylon“ oder „Please forgive me“ und der Erfolg zu Hause in England außergewöhnlich. Grays Gesang hat viel von jener urtümlichen Kraft der mittleren Dylan-Phase, seine Musik aber ist näher an „Series of Dreams“ als an „Tombstone Blues“. Und die Energie seiner Songs, das Beharren auf große Phrasen, die Wiederholungen: All das ist junger Van Morrison. Sagen wir, wie es ist: David Gray ist großartig. Eine Adrenalininjektion fürs Songwritergenre.

      David Sylvian

      „Everything & nothing” (2000)

      In der Spaßgesellschaft wirkte David Sylvian immer wie ein Fremdkörper. Dabei hätte er als Coverboy Karriere machen können. Doch der britische Sänger war immer ein Tiefschürfer; sein Artpop war stets ausgetüftelt und ernst. Er schuf Alben, die wirkten wie Trips durch fremde Länder und ungeahnte Soundwelten. Die vorliegende Doppel-CD überblickt zwei Dekaden seiner Kunst mit der Band Japan und solo, inklusive neuer und neu eingespielter Stücke. Natürlich ist die Auswahl song- und nicht ambientorientiert. Und sie ist repräsentativ, obgleich der beste Japan-Song, „Nightporter“, aus unerfindlichen Gründen fehlt. Neben der vergriffenen „Weatherbox“ ist dieses Album der beste Einstieg ins Werk eines Individualisten, der Coverboy hätte werden können, doch die große Kunst vorzog.

      Dazerdoreal

      „Hard Disc to Hell” (2000)

      Mischen ist nicht nur possible, sondern nötig, gerade im neuen Jahrtausend. Wenn das so gut gelingt wie hier, ist dagegen nichts zu sagen. Im Gegenteil: Selten durchdrangen sich moderne Pop- und Dancestile zu einem ähnlich bedrohlichen Düsterpop. Dissonante Gitarren irren durch zischelnde, pumpende Loops, während Aydo Abay singt, als wäre er kurz vorm Einnicken. Das erstaunliche Debüt dieses Koblenzer Quartettes erinnert in den besten Momenten an den Kunstpop David Sylvians, aber es hat mehr Groove. Auch wenn der in den dunkelsten Ecken der Stadt zu Hause ist. Kein Wunder, dass manche Stücke Titel tragen wie „Apocalyptic Happiness“ oder „Lost in Phase“.

      Deep Purple

      „In Concert with The London Symphony Orchestra” (2000)

      Dass Purple-Enkel wie Metallica plötzlich mit Klassikrock Kasse machen, muss Jon Lord, den Genreerfinder, schwer gewurmt haben. Indes: Die Partitur seines legendären 1969er-„Concerto for Group and Orchestra“ war verschollen, das epochale Werk daher unrecyclebar. Erst die akribische Notation eines holländischen Fanatikers, der sich die Platte von einst ungefähr eine Million mal angehört haben muss, schuf den Grundstock für die zweite Einspielung, diesmal nicht mit dem versnobten Royal Philharmonic Orchestra von 69, sondern den rockgestählten Londoner Sinfonikern. Deutlich wird (vor allem in den Teilen II und III), wie problemlos fusionierbar die Genres wirklich sind, wenn eines Komponisten Herz für beide gleich laut schlägt. Am Ende hängen sie noch Purple-Songs dran, und selbst „Smoke on the Water“ sperrt sich nicht der Adaption. Das alles geschieht auf CD 2. Die Songs von CD 1 dagegen sind völlig überflüssiger Mainstreamrock, der sich unterm Einfluss des Orchesters in Lloyd-Webber-Gewaber verwandelt. Brrr.

      Der Wolf

      „Was soll ich sagen” (2000)

      He, Moses, du bist, haha, ein „Rödelheimer Blödelreimer“ – und bevor du jetzt ausholst, um mir, wie es deine Art ist, eine zu langen, halt inne und siehe: Das sage nicht ich, sondern Der Wolf. Der will mal wieder Feuer reinbringen in die deutsche Posse, und Moses-Pieksen ist da sehr probat. Doch der Typ aus Dortmund überrascht auch mit reflexiven Versen übers Genre, mimt freilich weiter auch den alltagsweisen Frechdachs, der ihn berühmt machte („Gibt’s doch gar nicht“). Und wenn’s ums High-Speed-Zungenschlingern geht, ohne sich einen Knoten einzufangen, macht ihm eh kaum einer was vor – selbst der Rödelheimer Blödelreimer nicht. Sag’ ich.

      Die Erben der Scherben

      „Keine Macht für Niemand” (2000)

      Schorsch Kamerun und Nina Hagen sowie ein Haufen wenigstens Engagierter wie Ken & MC/DC knöpfen sich Rio Reisers klassische Anarchohymnen vor. „Feierabend“, „Der Traum ist aus“: Nie war die Revolution cooler als damals, als Ton Steine Scherben nicht nur den Rock politisierten, sondern auch bewiesen, dass Rock auf Deutsch überhaupt möglich ist. Die Enkel versuchen nun, die politische Brisanz in die Ästhetik von heute zu überführen, in Rap und Noise; doch scheitern sie durchweg am eigenen Dilettantismus, der die rebellische Attitüde schon für Rebellion hält. Musikalisch weitgehend unkonsumierbar, politisch immerhin gut gemeint.

      Divination

      „Sacrifice” (2000)

      Würde sich die rastlose Arbeitswut des New Yorker Allrounders Bill Laswell, der hinter Divination steckt, adäquat in seiner Musik niederschlagen, sie müsste hektisch sein, unstet und sprunghaft. Doch zumeist ist sie so wie hier: meditativ, langsam atmend. Vier Stücke für Bass und elektronische Zither (verantwortlich: Laraaji, einst von Brian Eno entdeckt und bisher von kaum jemand sonst) ergießen sich über 48 Minuten. „Reflection“, der zögernde Beginn, erinnert an Tempelmusik – als stimmten Zen-Mönche ihre Instrumente. Und genauso zögernd vergeht es, macht Platz für das dunkel raunende „Waterbass“, einen Tauchgang ohne Rhythmus und Gravitation. Hoffentlich hört der rastlos arbeitswütige Laswell, der natürlich auch noch die Alben „Serene timeless Joy“ (Projektname: Rasa) und „The seven Centers“ (Projektname: Chakra) auf den Markt wirft, zu Hause recht oft seine Musik. Sie schützt