Matthias Wagner

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hätte Jim Morrison sie übertroffen, hätte er überlebt. Vielleicht. Aber eher nicht.

      The Kennedy Experience

      „The Kennedy Experience” (1999)

      Die Geige brennt: Auf acht Blas- und Saiteninstrumenten werden sechs Kompositionen (darunter „Little Wing“ und „Fire“) des legendärsten Gitarreros aller Zeiten, Jimi Hendrix, zum atemberaubenden Klassikpopcrossover. Der Violinist Nigel Kennedy verzichtet auf ironische Brüche; er nimmt Hendrix für voll, verwandelt dessen pure Bluesrockenergie in dahinjagende Kammermusik von unglaublicher Dichte. Als ausgewiesener Antisnob ist es Kennedy nun mal egal, ob er Händel oder Hendrix spielt. Und so, wie er sich in die Sache wirft, darf er auch das Sakrileg begehen, sein Projekt zu nennen wie Hendrix’ beste Band – mit seinem Namen an Jimis Stelle.

      The Walkabouts

      „Trail of Stars” (1999)

      „Geheimnis und Zweideutigkeit“, findet der Bandleader Chris Eckman, „sind die stärksten Eigenschaften von Musik.“ Er übersetzt sie seit einigen Jahren mit „Langsamkeit“ und „Sinfonik“. Das reichte für einen Majorvertrag, doch nach kurzem Erfolg kehrte die Seattle-Band wieder zum Kleinlabel zurück. Unverändert aber eins: Die Walkabouts, von Eckman eh nie mit den besten aller Songs versorgt, aber mit viel Empathie für die Wurzeln des US-Rock, haben ihre Identität hergegeben – für ein europäisches Konzept folkloristischer Neoromantik, welches die Tindersticks weitaus besser umsetzen. Ihrem humorfreien Album „Trail of Stars“ fehlt es nicht am Willen zur zittrigen Unterlippe, zur großen, ernsten Geste. Zu wahrem Pathos aber reicht es nie. Nur zu einigen schönen Momenten nachtschwarzer Melancholie.

      Tom Waits

      „Mule Variations” (1999)

      Einmal ist Waits eine Vogelscheuche, die bröckelt – herab fallen eine Uhr, eine leere Flasche (ha!), ein Knochen, ein Blatt, eine Trompete. Auf einem anderen Foto sitzt Waits verdreckt auf einer Motorhaube und hinterlässt flatschenweise Schmutz. Solche Bilder passen zu einem brillanten Album, das an Waits’ Großtaten aus den 80ern anknüpft. Aus Noise und Schallschmutz mixt der alte Röchler einen postindustriellen Blues, auf dem unverhofft zarteste Folkpflänzchen blühen. „I got the clothes/but not the face“, augenzwinkert er. Und vergisst zu erwähnen, dass die Chartssociety es einem gewöhnlich nicht verzeiht, wenn man in Designerklamotten ein Schlammbad nimmt. Wir schon.

      Underworld

      „Beaucoup Fish” (1999)

      Dem Drogenfilm „Trainspotting“ lieferten sie mit „Born slippy“ die kongeniale Hymne. „Beaucoup Fish“ setzt dort an: beim endlos verflochtenen Trip. Startpunkt Chilloutzone, Endpunkt outer space. Die herausragende Fähigkeit des Projektes um Karl Hyde liegt im Erzeugen eines halluzinogenen Sogs. Interessant dabei die Struktur des Gesamtklangs aus geloopten Beats, scharfkantigen Sequenzen und perkussiver Elektronik, denn sie kommt ohne Hierarchie aus. Und wenn uns das lyrische „Skym“ leise weckt, fühlen wir uns wie nach dem Rausch: ausgebrannt, grau. (Ich kenne das natürlich nur vom Hörensagen.)

      United Future Organisation

      „Bon Voyage” (1999)

      Programmatischer hätte der Albumtitel der Japaner kaum ausfallen können. Ihre Reise führt durch Stile, Zeiten und Epochen, von Dee Dee Bridgewater nach Brasilien, von Breakbeats bis Broadway – wie es halt so ihre Art ist. Der Latintouch nimmt zu, die Beats schmeicheln den Propellerheads, die Bläser stechen wie die Wespen. Warum die umtriebigen Grooves jedoch nicht mehr so bezwingend sind wie einst, ist angesichts des Aufwands verwunderlich. Oder liegt’s an mir? Ein Album jedenfalls, das überquillt vor Ideen und Fantasien – ein bewundernswertes Genlabor moderner Klänge. Doch die feinen Härchen am Unterarm, sie stellen sich einfach nicht mehr auf.

      Van Morrison

      „Back on Top” (1999)

      Nach einer langen Phase spiritueller Selbstfindung in den 80ern, die sich in oft pastoralen Alben niederschlug, ist die Sache mit Van in dieser Dekade wieder spannender. Häufiger schaut er nun zurück auf seine Wurzeln: Jazz und Blues. Wie diesmal, was aber auch naheliegt, ist er doch auf dem Point-Blank-Label gelandet, wo auch sein Idol John Lee Hooker sich verlegen lässt. Nun durchstreift der kleine Große aus Belfast die Weidegründe des Rhythm’n’Blues, die Orgel ist räudig und nicht mehr devot, das Klavier klingt nach Pub, der Bass pumpt. Und Van singt in wunderbarer Naturlyrik seine Poeme, die ihm noch immer leicht aus der Feder fließen. Das wird so bleiben, bis er irgendwann aus den Stiefeln kippt, mitten im Schreiben wahrscheinlich oder mitten im Singen. Hauptsache, es dauert noch lange.

      Verschiedene Künstler

      „Boom, Bust and the New Deal – Songs of the Depression” (1999)

      Wenn die Not draußen groß ist, sind stets die Kinos und Konzerte am vollsten, denn die Größe der Not weckt auch die größte Gier nach Zerstreuung. Die Hölle befeuert Kreativität mehr als das Paradies. Und in den furchtbaren zwölf Jahren nach 1929, als die US-Wirtschaft kollabierte und das Land vor einer Diktatur stand, gab es Hölle genug, um diese Ära zur kulturell fruchtbarsten des Jahrhunderts werden zu lassen. Zum Swing tanzte man am Rande des Abgrunds, Bing Crosby barmte „Brother can you spare me a Dime“ und die Boswell Sisters träumten von etwas, das in der Hyperinflation schneller (und anders) wahr wurde als gedacht: „If I had a million Dollars“. Verzweiflung überall, aber auch eine blühende, überquellende Lust im Frust – und beides hat die Bear Family zu einer prachtvollen rosaroten 4-CD-Box zusammengefasst, ergänzt um einen grandiosen Bildband, in dem Michael Brooks die (Musik-)Geschichte jener schaurigen, schönen Jahre neu erzählt. Es war die Zeit, als man im Hotel, wenn man den 19. Stock buchte, gefragt wurde: „Zum Übernachten oder zum Springen?“ Ein böser Witz des Komikers Eddie Cantor von 1929 – symptomatisch für viele der vorzüglich entrauschten 88 Titel dieser euphorisierenden „Depression“-Box.

      Verschiedene Künstler

      „Café del Mar Volumen Cinco – mixed by José Padilla” (1999)

      José Padilla ist DJ auf Ibiza, in der Disko Café del Mar. Dies bestimmt sein Denken, sein Handeln und vor allem seine Kriterien beim Kompilieren. Was ihm auch immer unterkommt: Um ihm zu gefallen, muss es umweht sein von den lauen Brisen ibizanischer Nächte – und wenn ihr mich tausendfach der Klischeereiterei bezichtigt: So klingen die Tracks auf dieser Zusammenstellung. Padilla mischt die zartesten Sampler der Welt, sie sind nachtblau und von seidigem Schimmer. Liebevoll ausgewählte Loungemusik von A. R. Rahman, Lamb oder Les Negresses Vertes, gedacht für den ganzen Globus, auch seine kalten Regionen. Oder gerade dafür.

      Verschiedene Künstler

      „Free Zone 6 – Fourth Person singular” (1999)

      Auf einen „Free Zone“-Sampler wartet man – obgleich er öfter kommt – wie auf einen Kubrick-Film: Er definiert stets den letzten Stand der Dinge. Nummer sechs lässt uns so erregt wie leicht verwirrt zurück. Verschlingt nun der Jazz den Dance, oder ist es umgekehrt? Bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen beide Genres, die einst Erzfeinde waren und nun durch kunstvolle Gentechnik zu Blutsbrüdern verschmelzen – unter der Fusionskraft von Alex Gopher, DJ Morpheus oder Mark Pritchard. Erhellt von der Leuchtkraft funkelnder E-Pianos und orgelartiger Synthesizer arbeitet sich die Elektronik vor in die Vergangenheit des Jazz. Ein verwirrendes Vergnügen.

      Verschiedene Künstler

      „Loud, fast & out of Control – The wild Sounds of the ’50s Rock” (1999)

      Als sie daran gingen, diese 50er-Box zu kompilieren, ließen sich die Labelleute vom Bild Marlon Brandos leiten, wie er sich grinsend fläzt auf seiner Harley und niemand