einem der Felsen, genau am Fuße der Sirene. Da lag etwas, etwas was dort nicht hingehörte. Es sah aus wie eine grüne Flasche. Roland näherte sich dem Spalt, er konnte den Gegenstand jetzt erkennen. Dort lag eine von Tang und Algen umspülte Weinflasche. Die Flasche war verschlossen und enthielt ein zusammengerolltes Papier. Roland griff nach ihr und hob sie heraus. Es war eine grüne Bordeauxflasche. Roland hielt seine erste Flaschenpost in Händen! Wie oft hatte er als Kind davon geträumt? Tausend Mal, zehntausend Mal? In seinen Träumen enthielt die Flasche eine Landkarte mit der genauen Lage eines Schatzes, dem Schatz eines Piraten. Heute, fünfzig Jahre nach seinen Kinderträumen, hatte er seine erste Flaschenpost gefunden. Ein Mann von beinahe 60 Jahren fiel in seine Kinderträume zurück. Ist es Dahut gewesen, die ihm diesen Fund zu Füssen gelegt hatte? Er schmunzelte. Er versuchte die Algen und den Tang von der Flasche zu entfernen, um einen besseren Blick auf den Inhalt werfen zu können. Er konnte deutlich sehen, dass mehrere zusammengerollte Seiten in der Flasche steckten. Roland nahm die Flasche mit. Er würde sie zuhause öffnen. Er überquerte die Felsen, kam wieder auf den Fußweg zur Kaimauer und stieg die Treppen hinauf.
Zuhause angekommen stellte er die Flasche vorsichtig auf den Küchentisch, dann hing er seinen Regenmantel an die Garderobe, zog sein festes Schuhwerk aus und schlüpfte in seine Hausschuhe. Er ging in die Küche, nahm die Flasche und begann sie am Spülstein zu reinigen. Aus der Tischschublade holte er einen Korkenzieher und zog den Korken heraus. An der Unterseite des Korkens war die Verfärbung zu sehen, die der Wein dem Korken einst verpasst hatte. Er schüttelte die Flasche, damit das zusammengerollte Papier herausfiel. Das war nicht so einfach, es waren etliche Seiten, zu viele, um einfach herauszufallen. Roland ging in sein Arbeitszimmer und holte eine Pinzette. Mit ihr konnte er das Papierröllchen jetzt fassen und vorsichtig zum Flaschenhals ziehen. Mit viel Geduld zog er die Rolle Zentimeter für Zentimeter durch den Flaschenhals. Es wäre ein Einfaches gewesen, die Flasche einfach zu zerschlagen und das Papier zu entnehmen. Roland war ein Sammler! Diese Flasche, seine erste Flaschenpost, sollte in seiner Sammlung bleiben, die wollte er keinesfalls zerstören.
Vorsichtig entrollte er die Seiten. Es waren zehn eng beschriebene Seiten. Roland begann zu lesen. Das Datum in der ersten Zeile enttäuschte ihn. Das Papier enthielt das Datum vom Anfang dieses Monats. Klar und deutlich las er:
Douarnenez, den 05. Februar 2017
Er hatte doch gehofft, eine vielleicht hundert Jahre alte Flasche gefunden zu haben. Stattdessen hielt er eine Flasche in der Hand, in der vor einer Woche noch Bordeauxwein lagerte. Er las weiter, sein Gesicht wurde bleich und seine Hände begannen zu zittern.
Kapitel 2
Anaïk Bruel war zufrieden, dass sie ihren letzten Fall abgeschlossen hatte. Das Wochenende würde sie entspannt mit Brieg Pellen verbringen können. Auf seinem Boot erwartete Anaïk ein riesiges Rosenbouquet, eine Flasche Champagner, ein vorzügliches Essen, ein umwerfend schöner Diamantring, ein Heiratsantrag und ein großes Bett in der Kajüte. Anaïk hatte den Antrag mit einem klaren, deutlichen, liebevollen und begeisterten ja, ich will, beantwortet. Seither beschäftigte sie nun die Planung ihrer Hochzeit, die in diesem Juli stattfinden sollte. Es traf sich daher gut, dass die Arbeit im Kommissariat etwas ruhiger war. Nur einmal hatten sie sich auf die Suche nach einem verschwundenen 60-jährigen Mann machen müssen, dessen Frau ihn als vermisst gemeldet hatte. Ein Verbrechen wurde nicht ausgeschlossen, so dass die Mordkommission die Ermittlungen aufgenommen hatte. Der Vermisste war nach drei Tagen wieder aufgetaucht. Es hatte sich um kein Verbrechen gehandelt, der Mann war, ohne sich von seiner Frau abzumelden, nach Brest gefahren und hatte seine dort lebende Schwester besucht.
Auch Monique Dupont, die Kollegin von Anaïk Bruel, freute sich über die ruhigeren Arbeitstage. Seitdem sie den Arzt, Alain Bost, kennengelernt hatte, waren ihre Feierabende nicht mehr so einsam wie in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit in Quimper. Mittlerweile war aus den einst Verliebten ein richtiges Paar geworden. An eine Hochzeit dachten die zwei im Moment jedoch nicht.
Die beiden Kommissarinnen beschäftigten sich mit der Lektüre von Suchanfragen, Fahndungsfotos, Rundschreiben des Justizministeriums und den berüchtigten Statistiken von Robert Nourilly, ihrem OPJ, dem officier de police judiciaire. Der Chef hatte drei Leidenschaften, dazu gehörten Presseerklärungen, ein notorischer Sparzwang und die Suche nach immer neuen Statistiken zur positiven Darstellung seines Kommissariats. Gestern erst war die Aufforderung an die Mordabteilung ergangen, die Zahlen des vergangenen Jahres in die Tabellen einzutragen und sie mit Kommentaren und kurzen Schilderungen der Vorgehensweise zu ergänzen. Eine Tätigkeit, die weder Monique noch Anaïk schätzte. Das überließen sie gerne ihrer Sekretärin, Anne Kerflor. Aber das Telefon klingelte in den letzten Tagen nur selten, und ein neuer Fall, der sie vor den Statistiken rettete, schien in weiter Ferne zu sein.
Anaïk war in Gedanken bei der Auswahl ihres Hochzeitkleides. Der Ort ihrer Hochzeit stand bereits fest. Sie hatten sich für das Manoir de Kerazan entschieden, einem herrlichen Schloss aus dem 18. Jahrhundert. Das Manoir lag in der Nähe von Loctudy, 20 Kilometer von Quimper entfernt. Es gab dort einen ausreichend großen Saal für bis zu 120 Gästen. So viele kämen bei ihnen nicht zusammen, bisher standen 80 Gäste auf ihrer Liste. Anaïk und Brieg hatten geplant, dass der Cocktailempfang auf der Grünfläche vor dem Schloss stattfinden sollte, so das Wetter mitspielte. Das Schloss beherbergte ein Kunstmuseum, mit Gemälden, Mobiliar und Keramiken. Ihre Gäste könnten auf Wunsch während des Cocktails auch durch das Museum flanieren.
Das Telefon riss Anaïk aus ihren Träumereien.
„Anaïk Bruel.“
„Madame Bruel, hier ist die Gendarmerie von Pont-L´Abbé. Mein Name ist Maxime Le Beux. Wir wurden vor einer halben Stunde nach Loctudy gerufen. Auf dem Gelände der Domaine de Dourdy haben Spaziergänger einen Koffer gefunden, darin liegt eine Leiche.“
„Einen Koffer mit einer Leiche? Das muss ein Schock für die Spaziergänger gewesen sein. Wir kommen sofort, die Spaziergänger sollen bitte auf uns warten. Ist der Fundort bereits abgesperrt?“
„Aber natürlich, Madame la Commissaire. Mein Kollege, Jean Le Doeuff, hat das sofort erledigt. Er achtet auch darauf, dass niemand mehr den Fundort betritt. Wissen Sie, wo die Domaine de Dourdy liegt?“
Und ob sie das wusste. Als sie mit Brieg das Manoir von Kerazan besucht hatte, um sich ein Bild von dem Schloss zu machen, waren sie anschließend noch über den GR 34, den sentier côtier, spaziert und an der Domaine de Dourdy vorbeigekommen.“
„Ja, ich kenne den Ort“, antwortete sie.
„Der Fundort liegt direkt an der Brücke zur Île Garo. Sie können mit dem Wagen unmittelbar bis zum Fundort fahren“, fügte Maxime Le Beux hinzu.
Anaïk informierte Dustin, Yannick und ihre Kollegin Monique. Sie alle mussten zum Fundort kommen. Auf den Pathologen, Yannick Detru, hätten sie bei einer Leiche in einem Koffer vielleicht verzichten können, aber Anaïk kannte Yannick gut. Er wollte grundsätzlich mit zum Tatort kommen, oder wie hier zum Fundort, wenn es um eine Leiche ging.
Anaïk hielt vor der Polizeiabsperrung. Monique war bereits eingetroffen. Sie gingen unter der Absperrung hindurch und grüßten den Gendarmen, der auf sie zukam.
„Bonjour, Sie sind bestimmt Madame la Commissaire?“, begrüßte Maxime le Beux Anaïk.
„Der Koffer liegt hier drüben, wenn Sie mir bitte folgen“, sagte er und führte die Kommissarinnen zur schmalen steinernen Brücke. Auf dem linken Brückenpfeiler stand ein Schild mit dem Hinweis, dass die Brücke Privateigentum und für jeglichen Verkehr gesperrt war. Fußgängern war die vielleicht zweihundert Meter lange Überquerung erlaubt. Der Gendarm ging zur Böschung an der rechten Seite der Brücke und zeigte auf den geöffneten Koffer. Anaïk sah in den Koffer und auf die dort hineingezwängte Leiche eines Mannes mitsamt einiger Algen. Sie beugte sich zu dem Toten. Der Leichnam musste schon einige Tage im Koffer gelegen haben, die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Der Koffer war wahrscheinlich vom Meer angeschwemmt worden. Diese Überlegung beinhaltete, dass der Mann nicht in der Gegend ermordet worden war.
„Madame Bruel beseitigt schon wieder alle Spuren“, stichelte