Hans-Georg Schumann

Als Erich H. die Schule schwänzte


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schwänzen Sie?«

      »Ich weiß es nicht«, seufzte Erich, »ich weiß es wirklich nicht.«

      Er schwieg einen Moment. Und auch Hülya wusste offenbar nichts zu sagen.

      »Eigentlich«, sagte Erich leise vor sich hin und richtete seinen Blick auf den Boden, »hätte ich sofort umkehren müssen. Eigentlich hätte ich längst von diesem Tisch aufstehen müssen. In die Schule fahren und meine Unterricht aufnehmen müssen. Eigentlich.«

      »Was heißt dieses Eigentlich?«

      »Ich hab’s nicht getan. Irgendetwas ist schiefgelaufen. Jahrelang hab ich meinen Job gemacht, jahrzehntelang. Und jetzt läuft etwas schief. Und ich weiß nicht was.«

      Als er aufschaute und Hülya ansah, erkannte er sofort, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Und sie bestätigte das prompt: »Was? Ich verstehe überhaupt nichts von dem, was Sie da reden.«

      »Wie ist das, wenn du dich entschließt zu schwänzen?«, fragte Erich.

      »Ich tu es einfach«, erwiderte Hülya, »Ohne zu überlegen. Ich tu's.«

      »Hm«, machte Erich nachdenklich.

      »Sie doch auch«, meinte Hülya.

      Er brauchte einen Moment, um sie zu verstehen. Sie hatte recht: Er war doch ebenfalls spontan weitergefahren, hatte es einfach getan: geschwänzt.

      »Zahlen!«, rief er auf einmal, als er den Kellner sah.

      »Sie wollen gehen?«, fragte sie, »Wohin?«

      Als der Kellner kam, bezahlte er beide Getränke. Dann stand er auf.

      »Vielleicht nach Hause«, beantwortete er ihre Frage.

      Hülya erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl.

      »Und was tust du?«, fragte er.

      »Ich weiß es nicht.«

      »Wirst du morgen wiederkommen? Zur Schule, meine ich?«

      »Ich weiß es nicht«, sagte sie noch einmal.

      »Soll ich dich nach Hause fahren?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Meine Eltern denken doch, ich wäre in der Schule.«

      »Dumme Frage«, wollte er sagen, schluckte aber nur.

      Und auch den nächsten Satz sprach er nicht aus: »Willst du mitkommen?« Er wäre zu missverständlich gewesen. Wie konnte er, ein Lehrer, der die Schule schwänzte, eine Schülerin, die ebenfalls schwänzte, auffordern, mit zu ihm nach Hause zu kommen?

      Sofort ging ihm durch den Kopf, was die anderen wohl denken würden. Die Kollegen, Hülyas Mitschüler, die Öffentlichkeit, ihre Eltern, sie selbst.

      »Also dann tschüs!«

      Er schrak auf. Sie lächelte ihm zu und ging ein paar Schritte zurück. »Und Danke für den Drink!«, rief sie ihm zu und winkte noch einmal. Dann drehte sie sich um, ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten.

      Erich sah ihr nach. »Ich war wohl wieder weggetreten«, sagte er leise zu sich.

      03

      Hülya hatte den ganzen Vormittag in der Innenstadt verbracht. War durch die Straßen geschlendert, hatte zahlreiche modische Klamottenläden besucht. Kleidung anprobiert, aber nichts davon gekauft.

      Geld war in ihrer Familie eher knapp. So hatte Hülya gelernt, sparsam damit umzugehen. Doch gucken und anprobieren kostete nichts.

      Viele ihrer Kleidungsstücke hatte sie selbst genäht. Eine Tante von Hülya war Schneiderin, hatte ihr das Nähen beigebracht. »Textil« war auch das einzige Fach, in dem sie eine Zwei oder eine Eins hatte.

      Hülya liebte bunte Stoffe. Sie hatte ihren eigenen Stil, daraus Kleider zu machen. Von dem, was bei den meisten ihrer Mitschülerinnen gerade angesagt war, hielt sie nichts. Hülya mochte keine Hosen, die nur knapp am Körper saßen. Oder Shirts, die zu kurz waren.

      Hülya war schlank, fast dünn. Hatte lange dunkelbraune Haare, meist hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. So war ihr Gesicht von vorn und von der Seite gut zu sehen. Dass sie von orientalischen Eltern abstammte, war unverkennbar: Ihr Vater Mahsun kam aus der Türkei, ihre Mutter Farida war im benachbarten Irak geboren. Beide waren Kurden.

      Ihre bisweilen eigenwillige Kleidung machte Hülya nicht zur Außenseiterin. Viele ihrer Mitschülerinnen schienen sogar eher beeindruckt zu sein, dass sie sich ihre eigene Mode schuf. Und die sich über ihre Kleidung lustig machten, waren vorwiegend Jungs.

      Freundinnen hatte Hülya keine. Jedenfalls nach ihren eigenen Maßstäben. »Gute Kumpels« nannte sie die Mädchen, mit denen sie meistens zusammen war.

      Was das Fehlen im Unterricht anging, hielt Hülya einen einsamen Rekord. Dennoch war ihre Versetzung nie gefährdet, immer kam sie irgendwie über die Runden. Bei den Klassenarbeiten war sie da und erreichte dort zumindest ausreichende Zensuren.

      Ihr häufiges Fehlen wurde durch die Mutter gedeckt. Hülya brauchte sie nur zu bitten, dann unterschrieb sie die Entschuldigungen. Die hatte Hülya selbst verfasst, manchmal auch auf Vorrat, das Datum fügte sie erst später hinzu.

      Wenn einige misstrauische Lehrer bei Hülya zu Hause telefonisch nachfragten, war entweder keiner da (denn ihre Mutter ging niemals ans Telefon) oder der Vater bestätigte stets, dass die Entschuldigung schon in Ordnung sei.

      Es hatte allerdings nicht nur einmal Probleme gegeben, weil Hülya von Mitschülern und sogar von einem Lehrer in der Stadt gesehen worden war. Beim ersten Mal waren sich die betreffenden Schüler nicht mehr sicher, als Hülya alles vehement bestritt. Im zweiten Fall blieb der Lehrer, der sie gesehen hatte, hartnäckig. Doch Hülya verstand es sehr überzeugend die Reuige zu spielen. So kam sie mit einer Verwarnung davon.

      Ihr war bewusst, dass es auf Dauer so nicht weitergehen konnte. Aber was machte es schon, wenn sie von der Schule flog? Hatte ihre Mutter nicht recht, wenn sie in Arabisch sagte: »Hülya soll frei sein, solange sie noch kann. Und wozu lernen, wenn ihr künftiger Mann komplett für sie sorgt? Das verdreht ihr nur den Kopf.«

      Ihr Vater Mahsun war ähnlicher Ansicht. Allerdings wollte der, dass alles seine Ordnung haben sollte. Deshalb war er nicht damit einverstanden, dass seine Tochter die Schule allzu oft schwänzte. Die Entschuldigungen seiner Frau verteidigte er trotzdem. Denn auch er war der Meinung, dass seine Tochter keine Schulbildung brauchte.

      Wozu auch? Hatte sie doch mehr als das, was für eine baldige Heirat nötig war: Sie war schön, nähte ihre Kleidung selbst, wusste, was in einem Haushalt zu tun war. Und dazu konnte sie fließend Deutsch sprechen – im Gegensatz zu ihren Eltern.

      Mahsuns Wortschatz reichte aus, um sich »da draußen« einigermaßen zu verständigen. Bei der Grammatik und Rechtschreibung ließ er sich von seiner Tochter helfen. Arabisch dagegen beherrschte er sehr gut. Das war auch die Sprache, in der er sich mit seiner Frau Farida unterhielt.

      Die weigerte sich, diese »schreckliche Sprache« Deutsch zu erlernen. Dennoch blieb es ihr nicht erspart, wenigstens ein paar Worte zu sammeln, um Bruchstücke verstehen und in Brocken antworten zu können.

      Selten verließ Farida das Haus. Grundsätzlich trug sie nur weite hochgeschlossene Kleidung und ein eng um den Kopf geschlungenes Tuch. Meistens ging sie dann in einen Laden um die Ecke, in dem arabische Lebensmittel angeboten wurden. Kaufte dort ein, hielt ein kurzes Schwätzchen mit der Frau des Ladenbesitzers – in Arabisch. Wieder zu Hause, kümmerte sie sich dann um den Haushalt. Oder setzte sich vor das Fernsehgerät, um sich dort DVDs mit orientalischen Filmen anzuschauen.

      Arabisch war auch die Sprache, die Hülya neben ein bisschen Türkisch gelernt hatte. Sie mochte diese Sprache, wegen ihres Klangs, aber auch wegen ihrer Schrift. Beides hatte im Vergleich zu europäischen Sprachen etwas Märchenhaftes. Auch wenn Mitschüler sich schon einige Male über das Arabische lustig gemacht hatten.

      »Das