Hans-Georg Schumann

Als Erich H. die Schule schwänzte


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nicht, zumal Hoofeller bei ihm offenbar schärfere Maßstäbe ansetzte als bei schwächeren Schülern.

      Urban war natürlich auch bei Hoofeller in den Fächern Deutsch und Englisch gut. Aber eben nur gut, nicht hervorragend. Denn dieser Lehrer hatte die Eigenart, die gleiche Leistung bei einem schwächeren Schüler höher zu bewerten als bei jemandem wie Urban. Das hatte schon zu einigen Streitigkeiten zwischen Hoofeller und Urban geführt. Außerdem hatten sich dessen Eltern schon mehr als einmal beschwert.

      Urban verbreitete dies natürlich sofort weiter, und er setzte noch eins drauf: Da liefe sogar etwas über die Schulleitung und hätte für Hoofeller wohl auch rechtliche Folgen.

      Hülya wusste nicht, ob Urban sich nur wie üblich wichtigmachen wollte, oder ob da wirklich etwas dran war. Na ja, gleiche Leistung verschieden zu bewerten war wohl auch ein Problem – für den, der an und für sich die bessere Zensur bekommen müsste.

      Und nun war Hoofeller nicht da. Ob er für immer wegbleiben würde, einfach so? Das konnte er nicht tun, das würde ihn doch seine Rente kosten? Hülya wunderte sich, warum sie sich darüber Gedanken machte.

      Aber es war schon ein bisschen ungewöhnlich, wenn ein Lehrer mal schwänzte. Das heißt, bestimmt kam das öfter vor. Es fehlten ja immer mal wieder Lehrer. Wie es hieß, waren die krank oder auf Dienstreise. Aber es könnte ja sein, dass einige von ihnen wirklich schwänzten. Und einer davon war jetzt eben Hoofeller.

      Na und? Sie gönnte ihm das, sich auch mal von den Schülern zu erholen. Doch es passte nicht zu ihm. Sie hatte ihn zwar erst seit diesem Schuljahr in Deutsch und in Englisch. Von anderen Schülern aber wusste sie, dass er selten fehlte. Und wenn, dann war er wirklich krank. Oft war er vorher schon so krank, dass man es ihm ansah. Und dann, einen Tag später, fehlte er dann auch. Und wenn er zurückkam, sah man ihm wieder an, dass er krank gewesen war.

      Also war es diesmal doch anders. Hoofeller war einfach weggeblieben, ohne krank zu sein. Einfach so. Und hatte nicht mal einen Grund. Er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, einen zu erfinden.

      06

      Erich war früh aufgestanden. So wie immer, wenn er zur Schule musste. Heute hatte er frei. Sein zweiter Schwänztag, schmunzelte er vor sich hin. Schon gestern, gleich nach dem Gespräch mit Hülya, war er bei seinem Hausarzt gewesen. Anschließend hatte er nochmals in der Schule angerufen und sich bis zum Freitag einschließlich krankgemeldet. Das Attest würde er am Montag mitbringen.

      Es erschien es ihm noch immer unverständlich, warum er nicht in der Schule war. In der ersten Stunde hatte seine Neunte Deutsch. Wahrscheinlich würden sie die ausfallen und die Schüler eine Stunde später kommen lassen.

      Ob Hülya heute erschienen war? Oder schwänzte sie ebenso wie er und trieb sich gerade wieder in der Stadt herum?

      Erich hatte beschlossen, um den See herum spazieren zu gehen. Zumindest einen Teil des knapp fünf Kilometer langen Rundwegs könnte er abwandern. Dabei hatte er fast ständig einen Blick aufs Wasser. Viele Abschnitte des Rundwegs verliefen im Schatten, allerdings war auch der größte Teil nicht befestigt. Er würde sich also seine Wanderschuhe mit den dicken Sohlen und der Luftfederung anziehen.

      Ehe er losging, zögerte er noch einmal kurz. Und was, wenn ihn jemand von den Kollegen sehen würde? Die waren nämlich nicht alle in der Schule, einige hatten erst später Unterricht, teilweise erst am Nachmittag.

      Da war Erich pingelig. Immer wenn er einmal krank war – was selten der Fall war – blieb er zu Hause. Verließ nur seine Wohnung, um zum Arzt oder zur Apotheke zu gehen. Niemand sollte ihn irgendwo herumbummeln sehen und daraus falsche Schlüsse ziehen können.

      Bisher hatte Hoofeller es sorgfältig vermieden als Schwänzer zu gelten. Aber heute war das etwas anderes. Er lächelte in sich hinein. Es machte ihm nichts aus. Sollen sie doch denken was sie wollen. Wenn ihn überhaupt jemand sehen würde.

      Dann legte er sich doch eine passende Antwort zurecht: Der Arzt habe ihm Spaziergänge verordnet. Das hätte er früher auch schon sagen können. Aber da traute er es sich nie. Jetzt dagegen machte es ihm seltsamerweise nichts aus.

      »Wenn ich schon schwänze«, begann er zu lachen, »dann richtig!«

      Er ging aus seiner Wohnung, die im ersten Stock lag, die Treppe hinunter. Verließ das Haus, und musste dann noch einige Straßenabschnitte laufen, ehe er am Seeweg angekommen war.

      Einen Moment blieb er stehen. Er genoss den Anblick des Sees, der an seiner weitesten Stelle fast anderthalb Kilometer breit war. Die Sonne spiegelte sich im Wasser und färbte es in einem seltsamen Grüngelb.

      Wie oft hatte er schon dieses Wasser betrachtet. Als ob er unter der Oberfläche irgendetwas suchen würde. Natürlich wusste Erich, dass dort weder ein Schatz verborgen war noch ein Ungeheuer wie angeblich in Loch Ness lebte. Doch ihn faszinierte der Gedanke, dass man sich alles vorstellen konnte, solange man nur auf die Oberfläche schaute. Selbst wenn man dort schon einmal eingetaucht war und dann den Raum darunter kannte. Beim bloßen Anblick der Wasseroberfläche konnte man sich erneut vorstellen, dass es darunter etwas gab, das man noch nicht entdeckt hatte.

      Vielleicht ist es den Schatzsuchern so gegangen, die immer und immer wieder dieselbe Stelle abgesucht haben. In der Meinung, sie hätten vielleicht etwas übersehen. Es gab hier tatsächlich einmal Schatzsucher, an diesem See.

      Es rührte von einer Geschichte her, die man sich noch heute erzählte. Vor über hundert Jahren wurde die damals recht schlecht geschützte Bank von Seeberg überfallen. Die Täter kamen jedoch nicht weit, denn der Überfall wurde schnell bemerkt. Und die Verfolger waren den Bankräubern dicht auf den Fersen. Die rannten zum See, fanden dort ein Boot, ruderten damit bis etwa zur Seemitte, und ließen die Beute hinein plumpsen. Nach einiger Zeit versanken die schweren Säcke mit den Geldstücken offenbar im weichen Boden des Sees, zwischen allerlei Unterwasserpflanzen.

      Die Täter wurden zwar allesamt erwischt. Doch das Diebesgut hatte man nie gefunden. Und mit der Zeit wurde daraus ein Schatz. Wie viel Geld es gewesen sein mag – wenn die Geschichte stimmte – wusste man bis heute nicht. In alten Quellen hieß es, es habe sich um höchstens hundert Goldstücke gehandelt. Ihr heutiger Wert wurde auf über 100 Euro pro Münze geschätzt.

      Im Laufe der vielen Jahre jedoch wuchs der Schatz in der Überlieferung von Mal zu Mal immer weiter an. Nach heutiger Erzählversion sollten es bereits mehrere tausend Goldstücke im Wert von insgesamt fast einer Million Euro sein. Damit würde es sich also schon lohnen, nach diesem Schatz zu suchen.

      Und so waren bis noch vor etwa zwanzig Jahren zahlreiche Gruppen von Tauchern im See von Seeberg unterwegs, zum Teil sogar nachts. Doch gefunden hatte nie jemand etwas.

      Hoofeller lächelte. Vielleicht hätte auch er früher an einer solchen Tauchaktion teilnehmen sollen? Einfach so, zum Spaß. Denn noch heute erzählten sich die Leute die tollsten Geschichten, was es alles unter Wasser zu sehen gab. Natürlich waren auch einige Seeungeheuer dabei, die den mutigen Tauchern dort begegnet sein sollen.

      Aber Erich traute sich bis heute nicht, tiefer als etwa zwei Meter zu tauchen. Er schwamm damals zwar gerne, hatte sogar den See an einer etwas engeren Stelle einige Male komplett durchquert. Doch beim Tauchen bekam er nach einiger Zeit Angst, dass er vielleicht nicht mehr rechtzeitig die Wasseroberfläche erreichen würde. Ehe ihm die Luft ausging. Außerdem sah man hier ab etwa zwei Metern Tiefe so gut wie nichts mehr unter Wasser. Deshalb hielt er sich beim Schwimmen und Tauchen immer nur in der Nähe der Oberfläche des Sees auf.

      Heute schwamm er schon lange nicht mehr hier. Das konnte zwanzig oder mehr Jahre her sein, dass er das letzte Mal in diesem See geschwommen war. Wenn Erich schwimmen ging, dann zuletzt nur noch ins Hallenbad von Seeberg. Und seit er sich einen Bauch hatte wachsen lassen, der längst unübersehbar geworden war, traute er sich überhaupt nicht mehr öffentlich ins Wasser.

      Inzwischen war Erich wohl einen ganzen Kilometer weiter gegangen. Er erkannte dies an einer Markierung. Früher einmal hatte er sich bei der kompletten Umrundung des Sees Stellen gemerkt, die jeden der etwa fünf Kilometer kennzeichneten.