Hans-Georg Schumann

Als Erich H. die Schule schwänzte


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Die einzelnen Stellen hatte er vor Jahrzehnten schon mit Fahrrad und Tacho genau abgemessen.

      ›Bis zu dem Café‹, dachte er, ›in dem ich immer einen Cappuccino trinke, ist es also noch einen halben Kilometer hin.‹ Er beschleunigte seine Schritte, und es dauerte nicht lange, bis er bei dem besagten Café angekommen war.

      »Geschlossen«, sagte er enttäuscht. »Hatte ich vergessen. Dass dieses Café nicht wie die anderen am Montag zu haben kann!«

      Er ging langsam weiter. ›Macht nichts‹, dachte er bei sich, ›trink ich eben einen zu Hause.‹ Und er beschloss, nicht umzukehren, sondern den ganzen Rundweg zu gehen. Das hatte er schon länger nicht mehr getan.

      Seit Jahren besuchte er dieses Café regelmäßig auf seinen wöchentlichen Spaziergängen, die allerdings immer nur am Wochenende stattfanden. Trank dort einen Cappuccino, und machte sich dann auf den Rückweg.

      Er kannte den Besitzer des Cafés, wechselte ab und zu ein paar Worte mit ihm. Und hatte dessen Sohn sogar schon wiederholt Nachhilfe in Englisch gegeben. Bezahlung wollte er dafür keine. Alessandro – so hieß der Vater des Jungen – revanchierte sich aber damit, dass Erich jeden Sonntag seinen Cappuccino kostenlos bekam. Den heutigen hätte er natürlich bezahlt, dachte er bei sich, aber am Donnerstag war das Café ja geschlossen.

      Als Erich weiterging und nach längerer Zeit den Wegweiser als Dreikilometermarke hinter sich gelassen hatte, sah er die längst verfallene Hütte und blieb stehen. Wie immer, wenn er dort vorbeikam.

      Sie lag nicht direkt am Rundweg, sondern ein bisschen abseits, war aber vom Weg aus sogar bei Dämmerung gut zu erkennen.

      Früher als Kind hatte er dort einmal Zuflucht gesucht, zusammen mit einem älteren Jungen. Der hatte ihm weismachen können, dass im Wald um den See ein geheimnisvoller Mann sein Unwesen trieb. Er ernährte sich angeblich von kleinen Kindern, die ihm über den Weg liefen.

      Beide rannten schnell zur Hütte, als der betreffende Mann sich zu nähern schien. (Dabei war sich der kleine Erich nicht einmal sicher, ob das Geraschel, das sie hörten, wirklich Schritte waren.)

      Die Jungs versteckten sich im Hohlraum unter der Sitzbank, als tatsächlich jemand hereingestapft kam, sich sogar an den Tisch setzte, und dort eine Weile schnaufend saß. Wer es war, erfuhr Erich nie.

      So aber hatten sie damals bestimmt eine Stunde unbequem unter der Bank gekauert, möglichst ohne einen Laut, bis dieser Jemand sich endlich laut stöhnend erhob und wieder entfernte.

      Erst als es dann eine Weile völlig still war, trauten die beiden sich wieder aus der unbequemen Lage heraus. Lange Zeit konnte Erich seine Beine nicht richtig bewegen. So waren sie zwar eilig nach Hause unterwegs, aber mehr gehumpelt als gerannt. Und der kleine Erich ließ sich die nächsten Monate nicht mehr zu einem Besuch des Seewegs überreden.

      Später, einige Jahre älter geworden, umrundete er den See oft mit seinem Fahrrad. Dabei wagte er auch Abstecher in den dichteren Wald, nicht ohne sich immer wieder an das Erlebnis zu erinnern. Das lag mittlerweile weit zurück. Es machte ihm seit langem nichts mehr aus. Inzwischen wusste Erich, dass es in diesem Wald keine Menschenfresser gab. Ebenso wie keine Ungeheuer im See. Und offensichtlich auch keinen Schatz.

      Zwischen Kilometer Vier und Fünf gab es eine weitere Stelle, die in Erich Erinnerungen weckte. Hier lagen viele entwurzelte oder gefällte Bäume, wegen der starken Unwetter im letzten Monat. Für Erich sah es hier fast aus wie Ruinen, die ein Krieg hinterlassen hatte. ›Alles wie ausgestorben‹, dachte er, ›aber man kann ja scheinbar totes Holz wieder zum Leben erwecken, wenn man Möbel daraus macht.‹

      Früher hatten sie hier zu fünft oft ein Lagerfeuer angezündet. Erich mochte so um die elf bis zwölf Jahre alt gewesen sein. Es gab damals eine kleine Lichtung und der Boden war weiträumig sandig. Die Jungs hatten größere Steine gesammelt und diese nach und nach hierhergebracht.

      Als ihr erstes großes Feuer niedergebrannt war und in der Glut die Kartoffeln rösteten, beschlossen sie eine Bande zu gründen. Jeder musste einen Schwur ablegen, dessen Text sie sich vorher zurechtgelegt hatten. An den genauen Wortlaut konnte Erich sich heute nicht mehr erinnern. Es ging unter anderem um Zusammenhalt und auch der Satz »Einer für alle, alle für einen« kam darin vor. Den hatten sie im Film »Die drei Musketiere« gehört und er gefiel allen so gut, dass sie ihn auch in ihren Schwur einbauten. Was er bedeuten sollte, wussten sie nicht so genau. War aber nicht schlimm, Hauptsache der Schwur klang gut.

      Zum Abschluss musste jeder von ihnen noch in die Glut pinkeln. Und Erich erinnerte sich, dass er damals keinen Tropfen herausbekam. Anschließend bemerkten die fünf, dass sie vergessen hatten, die gerösteten Kartoffeln vorher aus der Glut zu nehmen. Erich musste schmunzeln.

      Lange hatte die Bande dann nicht gehalten. Danach gab es noch zahlreiche Neugründungen. Jede Bande hatte zuerst mindestens drei Mitglieder, die meisten bestanden am Schluss nur noch aus einer Person, was natürlich die sofortige Auflösung zur Folge hatte. Die Lebensdauer solcher Banden reichte von einigen Tagen bis zu mehreren Monaten.

      Erich ging weiter, machte den Rundgang komplett. Nun war er wieder am Anfang des Seewegs, der ja unendlich viele Anfänge (und Enden) hatte – aber einer davon war Erichs Anfang.

      Heute empfand er den ganzen See mit dem ihn umgebenden Wald als wahren Schatz. Man konnte sich dort erholen, konnte frische Energie für kommenden Unterricht tanken.

      Von seiner Wohnung aus war es nicht weit. Oft ging er direkt nach der Schule nur bis ans Seeufer, und blieb an seinem Anfang des Rundwegs. Setzte sich dort auf eine Parkbank, schloss die Augen. Und saß einfach nur da. Atmete die Luft ein, die vom Wasser kam, gemischt mit den Düften des nahen Waldes.

      So manches Mal war Erich dort eingeschlafen, um erst bei Dämmerung wieder aufzuwachen. Dann blieb er noch eine ganze Weile sitzen, die es dauerte, bis die Sonne untergegangen war. Auch das war etwas, das dieser See bot: Den Untergang der Sonne, die ihn immer mehr mit hellem Blut zu tränken schien, bis sie schließlich ganz versank und dem See ein dunkles Tintenblau hinterließ.

      Nach diesem Naturschauspiel erhob sich Erich von seinem Logenplatz, um nach Hause aufzubrechen. Dort verbrachte er dann den ganzen restlichen Abend.

      Diesmal zögerte er. Es war noch früh am Tag. Ob er den ganzen Weg noch ein zweites Mal rund gehen sollte?

      07

      Es war später Nachmittag, als Hülya von der Schule nach Hause kam. Sie war müde und fragte sich mal wieder, wozu sie sich den ganzen Stress gemacht hatte. Stundenlang in der Klasse sitzen und sich gelangweilt anhören, was der oder die da vorn zu sagen hatten.

      Am schlimmsten war die vierte Stunde. Da hatte diese blöde Lippmann Vertretung für Hoofeller. Englisch und die Lippmann. »A little bit louder, please«. »A little bit clearer, please«. Das waren die beiden Sätze, die diese Frau am meisten benutzte.

      Hoofeller ließ es schon mal durchgehen, wenn man die englische Aussprache nicht allzu genau traf. »Hauptsache«, sagte er dann mit einem Grinsen, »ihr versteht es und euer Gesprächspartner versteht euch.« Und auch dieser Satz stammte von ihm: »Es reicht, wenn ihr so gut Englisch könnt, wie ein Engländer oder Amerikaner für euch verständlich Deutsch spricht.«

      Hoofeller selbst sprach wohl ein perfektes Englisch, soweit Hülya das beurteilen konnte. Jedenfalls klang es in ihren Ohren ziemlich perfekt. Dass es durchaus verschiedene Arten von Englisch gab, hatten sie sich an Dutzenden von Beispielen anhören können, die Hoofeller ihnen vorspielte.

      Zuerst sagten verschiedene Personen, deren Muttersprache Englisch war, einige Sätze in Deutsch. Das meiste davon hatte Hülya verstanden, obwohl darin viele Grammatikfehler steckten. Dann kamen Menschen aus Europa, Asien, Afrika zu Wort. Auf Englisch. Viele beherrschten diese Sprache nur mäßig. Hier verstand Hülya wenig. Urban war der einzige, der zumindest so tat, als würde er alles verstehen.

      »Die meisten von euch«, meinte Hoofeller dazu, »werden nicht gerade in England ihren Urlaub verbringen, sondern irgendwo in Südeuropa oder in der