Hans-Georg Schumann

Als Erich H. die Schule schwänzte


Скачать книгу

einmal, welcher Beruf sie interessierte. Und wenn sie heiraten würde, dann wäre sie erst einmal dieses Problem los. Später konnte sie sich dann immer noch Gedanken darüber machen, was aus ihr werden sollte.

      Dass ihr künftiger Mann bei der Bank arbeitete, klang vielversprechend. Da gab es ja genug Geld. Natürlich wusste Hülya, dass Kemal nicht einfach zum Tresor gehen und sich dort bedienen konnte. Aber wenn er mit Geld zu tun hatte, musste er auch einiges davon verstehen und abbekommen. Die Banken waren doch steinreich. Also würden ihre Mitarbeiter bestimmt auch eine ganze Menge verdienen.

      So würde es Hülya schon in wenigen Jahren bei Kemal besser gehen als jetzt bei ihrem Vater. Und sie könnte sich endlich auch einiges von dem leisten, was viele ihrer Mitschülerinnen längst besaßen.

      Eigentlich müsste sie überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. Doch dann würde sie ihre Mitschüler vermissen. Und den ganzen Tag zu Hause verbringen, das wollte Hülya auch nicht. Also würde sie weiter ab und zu hingehen, ab und zu schwänzen, mal zu Hause bleiben, mal in der Stadt herumbummeln.

      Auch jetzt war es früh genug noch einmal loszuziehen. Sie musste ja erst gegen neun Uhr wieder da sein. »Ich muss nochmal weg!«, rief sie ihrer Mutter zu. Die nickte stumm und dachte daran, dass all das bald vorbei sein würde, wenn Hülya erst einmal unter der Haube war.

      08

      Er erschrak, als es klingelte. Zuerst glaubte Erich, er hätte sich verhört, dann ordnete er das Geräusch verwirrt dem Telefon zu. Schließlich realisierte er, dass es sich wirklich um die Türklingel handelte.

      Er würde einfach nicht öffnen. Denn offiziell war Erich schließlich krank. Doch das Klingeln wollte nicht verstummen. Schließlich ging er zum Türspion und schaute hindurch. Er wollte es nicht glauben, aber draußen stand wirklich Hülya.

      Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür. »Hallo«, sagte sie. »Hallo«, gab Erich zurück. »Darf ich reinkommen?«, fragte Hülya. Erich nickte und trat zur Seite. Sie ging durch den kurzen Flur ein Stück geradeaus.

      Dann blieb sie stehen und zögerte. Zog ihre Jacke aus, die Erich ihr abnahm und in der Garderobe aufhängte. Er zeigte auf die offene Wohnzimmertür. Und Hülya ging nickend hinein.

      »Setz dich irgendwohin«, wollte er sagen, aber sie hatte bereits Platz genommen. Ausgerechnet in seinem Sessel. Den er eigentlich nur für sich beanspruchte. Normalerweise gelang es Erich immer, Besuch (der ohnehin selten war) aufs Sofa zu platzieren. Diesmal jedoch nicht.

      Er ließ es geschehen und blieb einen Augenblick stehen. »Was führt dich zu mir?«, fragte er Hülya.

      »Ich wollte nur mal vorbeischauen, wie's Ihnen geht«, erwiderte sie und grinste ihn an. »Wie man sieht, sind Sie wenigstens nicht todkrank.«

      Erich sah sich kurz um, dann setzte er sich auf einen Sofaplatz. Nun saßen sich beide eine Weile schweigend gegenüber. Keiner wusste so recht, was er oder sie sagen sollte.

      Schließlich hielt es Erich nicht mehr aus, stand ruckartig auf und fragte: »Willst du was trinken?« »Ne Cola, wenn Sie haben.«

      Erich schüttelte den Kopf. »Ich habe Wasser und Saft.« »Was für Saft?« »Komm mit und such dir was aus«, forderte er sie auf.

      Hülya erhob sich und folgte ihm in die Küche. Erich zeigte auf eine Ecke neben dem Büfett. Dort standen mehrere Getränkepackungen. Hülya ging in die Hocke, schaute einen Moment, und entschied sich dann für Apfelsaft.

      »Ist zwar was ganz anderes als Cola, aber soll ja gesund sein«, sagte sie süßsauer lächelnd. Erich nahm eine Schere, schnitt die Packung auf, holte zwei Gläser aus der Anrichte und goss sie jeweils dreiviertel voll.

      »Wir können uns auch hier in die Küche setzen, wenn du willst«, meinte er und schaute sie an. Hülya nickte kurz, trug die beiden Gläser zum Tisch und setzte sich auf einen der beiden Küchenstühle. Erich nahm ihr gegenüber Platz.

      »Du willst wissen, wie es mir geht?«, fragte er. Und als sie nickte, sagte er: »Gut. Mir geht es gut.«

      »Haben Sie inzwischen den Grund gefunden?«, fragte Hülya. »Für mein Schwänzen?« Erich lächelte: »Nein, aber es gibt bestimmt einen. Ich kann ihn bloß nicht entdecken.«

      »Dann suchen Sie ihn«, meinte Hülya und Erich hörte auf zu lächeln. »Wieso«, fragte er, »ist es für dich wichtig zu wissen, warum ich nicht zur Schule gehe?«

      Und als Hülya darauf nichts sagte, sondern nur mit den Schultern zuckte, gab er selbst eine Antwort: »Weil du selber keinen Grund für dein Fehlen hast.«

      »Doch, hab ich«, entgegnete sie trotzig, »Ich brauche die Schule nicht. Ich bin jetzt über 15, und in nicht mal einem Jahr werde ich heiraten. Ich kenne den Typ, er ist nett, und er wird gut verdienen.«

      »Und er wird für dich sorgen«, meinte Erich. Sie nickte.

      »Und er wird für dich denken«, meinte er weiter. Diesmal nickte Hülya nicht. »Ich denke für mich selbst«, erwiderte sie.

      Erich hob sein Glas, trank es leer, und behielt es dann in der Hand.

      »Was wirst du nach deiner Heirat tun, all die Jahre?«, wollte er wissen. »Das weiß ich nicht«, gab Hülya zu, »Ich habe noch nicht drüber nachgedacht. Werd ich dann schon sehen.«

      »Du hast dir keine Gedanken darüber gemacht, wie deine Zeit während der Ehe aussehen soll?«

      Hülya schüttelte den Kopf. »Nein, warum? Interessiert mich jetzt nicht.« »Was interessiert dich denn jetzt?«, fragte Erich und setzte das leere Glas ab.

      Hülya überlegte. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht: »Jetzt interessiert mich immer noch, warum Sie geschwänzt haben. Gestern und heute. Wollen Sie morgen auch aus der Schule wegbleiben?«

      Erich nickte. »Ich werde bis zum Wochenende nicht zur Schule kommen. Was dann nächste Woche ist, weiß ich noch nicht.«

      »Und wenn ich Sie verpetze?« »Dann hab ich Pech gehabt«, versetzte er.

      Hülya sah ihn an: »Nein, nein. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich werd Sie nicht verraten.«

      Dann wurde sie nachdenklich: »Aber Sie als Lehrer müssten mich doch melden, wenn ich schwänze.«

      Erich zuckte mit den Schultern: »Und wenn ichs nicht tue?« Hülya lachte. »Wir sind eben beide keine Verräter.«

      Und Erich ließ sich von ihrem Lachen anstecken und lachte mit: »Nein, wirklich nicht.«

      Dann wurde er wieder ernst: »Warst du heute in der Schule?«, fragte er.

      »Ja«, sagte Hülya, »wir hatten die blöde Lippmann als Vertretung.« »Wieso blöd?«

      »Die ist immer so streng. Achtet auf jedes bisschen. Und ihre Lieblingssätze sind ›A little bit louder, please‹ und ›A little bit clearer, please‹. Nie passt ihr unsere Aussprache.«

      Erich musste loslachen. Er lachte über die Art, wie Hülya das Ganze erzählte. Und über ihre Mimik beim Erzählen.

      »Warum lachen Sie?«, fragte sie. »Ich lache über dich. Über die Art, wie du erzählst. Es gefällt mir.«

      »Sie machen sich über mich lustig?« Irritiert schaute Hülya ihn an. »Nein«, sagte er, »Ich finde es lustig. Aber ich mache mich nicht lustig.«

      Als Erich sah, dass er ihre Verwirrung offenbar vergrößert hatte, versuchte er eine Erklärung: »Sich lustig machen heißt jemanden lächerlich finden. Ich finde dich nicht lächerlich.«

      Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach: »Im Gegenteil. Mir gefällt die Art, wie du erzählst. Ich finde es lustig, wie du über meine Kollegin sprichst. Obwohl ich als Kollege eigentlich nicht darüber lachen sollte.«

      Hülya schien mit dieser Erklärung zufrieden. Aber sie führte sie zu einer neuen Frage: »Wieso