schaut Neve nachdenklich an. Ihre Augen verengen sich.
»Geht es dir nicht gut? Du bist weiß im Gesicht.« Erstaunt blickt Neve zu ihrer Tochter hinunter.
»Echt?« Schon seit ein paar Minuten fühlt sie sich etwas mulmig. Sie hatte allerdings keine Ahnung, dass man dies scheinbar so offen sehen kann. Sagen wollte sie nichts.
Als wenn Precious mit ihrer Aussage die Achterbahn in Bewegung gesetzt hätte, wird Neve im nächsten Augenblick schwindelig.
»Ok«, stöhnt sie und hält sich den Kopf.
»Mummy?« Besorgt behält Precious ihre Mutter im Auge, bis die ihre Hand vom Kopf nimmt und auf die Brust legt. Direkt auf das Herz. Mit der anderen krallt sie sich an den Handlauf der Treppe. Langsam wankt sie zwei Schritte zurück. Ihr Blick wird von Sekunde zu Sekunde glasiger. Sie beginnt angestrengt zu atmen.
»Mummy, was hast du?« Neve will antworten, aber bis auf ein kraftanstrengendes Keuchen kommt nichts Weiteres aus ihrem geöffneten Mund heraus. Die Hand die sich an der Brust befindet, krallt sich in das Shirt.
»Mum«, brüllt Precious im nächsten Augenblick die Treppe hinauf. Geistesgegenwärtig setzt sie Jean auf den Fußboden ab und rennt in die Küche. Als sie zurückkehrt hat sich Neve mittlerweile auf die Treppe gesetzt. Sie atmet noch immer schwer. Die Hand liegt unverändert auf der Brust, die Atmung ist gleichbleibend schwer.
»Mum«, schreit Precious ein zweites Mal und eilt zu ihrer Mutter.
»Hier, Mummy.« Precious' Stimme zittert, als sie Neve eine Hand hinhält auf deren Innenfläche eine Tablette liegt. Neve blickt auf die kleine Hand. Diese teilt sich mit einem Mal. Aus der einen Hand wird eine zweite, gleich darauf sogar eine dritte. Verwirrt über dieses Spektakel nimmt sie die Hand von ihrer Brust, um die Tablette an sich zu nehmen. Aber kaum verlässt ihre Hand die Brust, beginnt ihr Herz noch mehr zu schmerzen. Keuchend krallt sie sich in das Shirt zurück. Ihr Herz schlägt dreimal so schnell und schwer wie sonst. Es ist, als wenn Sam sie wieder auf einen höllischen Orgasmus-Trip geschickt hätte. Ihr Herz hämmert wie besessen gegen ihren Brustkorb. Schweiß tritt auf ihre Stirn.
»MUM!«, brüllt Precious ein letztes Mal, während Neve mit großen Augen auf Precious' wankende Hand blickt. Sie lässt den Handlauf der Treppe los, um dieses Mal mit dieser Hand die Tablette an sich zu nehmen. Aber auch jetzt will es nicht gelingen. Ihr Kopf spielt fangen mit ihr. Die Hand ihrer Tochter hüpft verzückt vor ihrer Nase herum. Sie wankt von einer Seite zur anderen, hebt und senkt sich. Keine Sekunde bleibt sie still, sodass Neve die Tablette an sich nehmen kann.
»Oh Gott«, hört sie Sam im nächsten Augenblick hinter sich.
»Mum, Mummy nimmt die Tablette nicht.«
»Gib sie ihr. Precious, gib ihr die Tablette in den Mund.« Noch während Sam ihrer Tochter diese Sätze entgegenwirft, stürzt sie die Treppe hinunter, wobei sie gleich zwei Stufen auf einmal nimmt.
Zitternd und völlig überfordert schiebt Precious die Tablette zwischen Neves Lippen. Bereitwillig nimmt Neve diese kleine Hilfe an, bis Sam neben ihr auftaucht. Hektisch nimmt sie Precious die Wasserflasche aus der Hand und nickt ihr zu.
»Das hast du super gemacht, Precious. Danke.« Ohne auf die Aussage ihrer Mutter zu achten, geht Precious ein paar Schritte zurück. Besorgt und auch verängstigt schaut sie Sam dabei zu, wie sie Neve die Flasche Wasser an die Lippen setzt. Erst nach einigen Momenten nimmt Neve den Kopf zurück und trinkt mehrere Schlucke.
Um sich irgendwo festzuhalten, hebt Precious Jean vom Boden und starrt wieder zu ihren Müttern zurück.
»Es tut so weh«, keucht Neve angestrengt und krallt sich noch immer in das Shirt. Sams besorgter Blick ruht auf Neves Hand, die schützend auf ihrem Herzen liegt.
»Ich rufe einen Krankenwagen.« Kaum dass Sam auf die Beine gesprungen ist, packt Neve sie mit der anderen Hand und hält sie fest. Angestrengt schüttelt sie den Kopf.
»Nicht, es geht gleich wieder. Lass die Tablette wirken«, keucht sie schwer. Nur widerwillig begibt sich Sam zu ihrer Frau hinunter, die sich mehr und mehr darauf konzentriert richtig zu atmen.
»Ich werde einen Termin bei deinem Arzt machen. Es muss doch in solchen Situationen irgendetwas geben was schneller wirkt, als diese Tabletten. Eine Spritze vielleicht«, murmelt Sam nachdenklich, während Neves Atmung mit jedem Herzschlag langsamer und ruhiger wird.
Einige Zeit später lässt Neve den Handlauf der Treppe los, nimmt die andere Hand von der Brust und stützt sich auf den Stufen ab. Sie beginnt geregelter zu atmen.
»Das liegt sicherlich an dieser verdammten Zigarette«, brummt Sam noch immer nachdenklich. Sie sucht den Auslöser für die Krampfattacke, die die ganze Familie so früh am Morgen in Schach hält.
Besorgt blickt sie zu Precious zurück. Die hat Jean soweit zu ihrem Gesicht hochgeschoben wie sie kann, nur um sich vor der Situation zu verstecken. Ihre Augen liegen dennoch schimmernd und verunsichert auf ihrer Mutter.
Sam streckt eine Hand nach ihr aus, während ihre andere auf Neves Schulter liegt.
»Alles ok?«, fragt sie ihre Tochter ruhig. Mit großen Augen schaut Precious Sam an. Erst nach einigen Sekunden nickt sie. Tapfer lächelt Sam sie an.
»Du hast super toll reagiert, Precious. Du warst eine große Hilfe, danke.« Anstatt zu antworten, schluckt Precious und nickt ein weiteres Mal wortlos.
Auch wenn es Neve einiges an Kraft kostet, blickt sie voller Stärke zu Precious. Gequält lächelt sie. Anstatt sich ebenfalls zu bedanken, zwinkert sie ihrer Tochter zu. Diese kleine Geste hat sich relativ schnell zwischen den beiden herauskristallisiert. Beide wissen was damit gemeint ist und wie es jeder für sich aufzunehmen hat. Manchmal bedarf es keiner Worte, sondern lediglich einer einfachen kleinen Geste.
Sam blickt zu Neve. Besorgt nimmt sie ihr ein paar Haare zurück.
»Geht’s wieder?« Neve holt tief Luft, setzt ein schweres Lächeln auf und nickt.
»Ja, danke.« Sam schüttelt den Kopf. Neve weiß, dass sie sich bei solchen Attacken für keine Hilfe zu bedanken hat. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit ihrer Frau in jeder Situation zu helfen.
Langsam steht sie vom Boden auf und nimmt Precious Jean aus dem Arm. Ihre Tochter hat sich während der ganzen Zeit kein einziges Mal zu Wort gemeldet, sondern alles stillschweigend beobachtet. Aber kaum, dass sie in Sams Armen ist, strahlt sie ihre Mutter an und schlingt sich um ihren Hals.
Im Gegensatz zu Precious, ist Jean ein unfassbar ruhiges Kind. Manchmal müssen Neve und Sam genauer hinsehen um festzustellen, ob Jean mit offenen Augen schläft oder nicht. Oftmals wandern nur ihre Augen ganz langsam hin und her und nehmen alles um sich herum auf.
Während Precious alles mit ihren Händen anschauen muss und zigtausend Fragen stellt, betrachtet Jean ihr Umfeld ruhig und wissbegierig.
Hin und wieder lachen Sam und Neve bei einem Glas Wein über ihre Kids und fragen sich, ob sie nicht »normale« Kinder haben können. Welche die gleichzeitig aufgeweckt und quirlig sind, aber dennoch ruhig und besonnen. Nein, sie müssen ja unbedingt zwei grundlegende Gegensätze haben, die tatsächlich nicht unterschiedlicher sein können. Und dennoch passen die beiden Kids wie zwei fehlende Puzzleteile in diese Familie, die sie somit vervollständigt.
Sam blickt noch einmal zu ihrer Frau zurück, die mittlerweile etwas aufrechter auf den Stufen sitzt und wieder normal atmet. Nur der Schweiß steht ihr noch auf der Stirn.
»Geht’s? Kann ich dich alleine lassen? Ich muss Jean die Windeln wechseln.« Neve nickt. Sicher schaut sie zu ihrer Frau hoch.
»Natürlich, geh ruhig. Ich werde nur noch ein paar Minuten hier sitzen bleiben.«
»Ok. Du schreist wenn was ist, ja?« Nickend bestätigt die ältere Frau Sams Aussage, obwohl sie diese irgendwie witzig findet. Wie soll sie schreien, wenn sie vor Schmerzen kaum atmen kann?
»Magst du Mommy helfen?«, schickt sie Precious an die Seite ihrer Mutter. Ohne zu antworten, trottet die Maus