Valuta Tomas

Final Game


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Sie quiekt ein freudiges »Jean« und stolpert an den Tisch heran.

      Seit Dekaden versuchen die beiden Frauen ihrer Tochter das eigenständige essen beizubringen, aber Jean hat sich nie darauf eingelassen. Sie hat es noch nicht einmal versucht. Sobald sie gecheckt hat, dass Sam oder Neve ihr eine Gabel oder einen Löffel geben wollten, schob sie ihre Hände unter den Tisch und verweigerte jede weitere dieser Handlungen. Dass sie jetzt aber so plötzlich und unkompliziert regelrecht zielsicher die Gabel nimmt und sich wie ein alter Hase das Essen zuführt, ist wie ein Weltwunder.

      »Jean mein Schatz, du isst ja«, kreischt Sam wie ein Kleinkind dem sie grade den Schnuller geklaut haben, greift ihrer Tochter unter die Arme und rupft sie aus dem Kinderstuhl. Als wenn sie Biene Maja und den dicken Willie spielen würde, wirbelt Sam ihre Tochter voller Freude in der Luft herum, so dass es Neve mit der Angst bekommt, die Maus könnte ihrer Mutter in der nächsten Sekunde die zermatschte Banane ins Gesicht spucken. Aber Jean bleibt wie eh und je vollkommen beherrscht. Sie grinst lediglich und freut sich an dem Spielchen.

      Zufrieden und stolz blickt Neve zu Precious zurück, die ihre Schwester ebenso begeistert beobachtet, wie ihre Mutter. Mit großen Augen schaut sie Neve neugierig an.

      »Habe ich das damals auch so gemacht? Einfach die Gabel genommen und gegessen?« Mit einem Schlag vernichtet Precious Neves Freude über Jeans neugewonnene Eigenständigkeit. Ihre Augen werden matt. Gedanklich zieht sie sich in sich zurück, dass sie nur noch soweit präsent ist, dass sie Precious antworten kann. Dennoch könnte sie alleine bei dieser Frage erneut anfangen zu heulen. Stattdessen räuspert sie sich. Sie ruft sich die Erzählungen von Laura und Jessica ins Gedächtnis zurück. Nach ihrer Rückkehr, erzählten die beiden Freundinnen ihr in unzähligen Gesprächen wie es war Precious zu erziehen und aufwachsen zu sehen. Welche Handlungen die kleine Maus zu welchen Zeiten durchgeführt hat.

      Dass sie diese ganzen Fortschritte selbst nicht miterlebt hat, sondern nur aus Erzählungen her kennt, lässt Neve einen dicken Kloß im Hals bilden. Tapfer schluckt sie diesen herunter.

      »Nein Schatz, du warst ganz anders. Du hast recht früh mit Gabel und Löffel angefangen. Allerdings nicht um damit zu essen, sondern, um das Essen durch die Küche zu schleudern«, beginnt Neve die Erzählung zu wiederholen. Precious kichert bei der Vorstellung daran.

      »Alles Mögliche hast du mit dem Besteck angefangen und uns fast in den Wahnsinn getrieben. Du hast mit dem Löffel in der Kürbissuppe herumgeschlagen, Püree auf den Boden geschmissen und Spinat über den Tisch geschmissen, alles. Es hat dir wahnsinnigen Spaß gemacht unsere Küche zu versauen. Wir wissen bis heute nicht wie du das angestellt hast, aber du hast es tatsächlich geschafft dir eine ganze Scheibe Wurst vom Teller zu klauen und bis an die Zimmerdecke zu schleudern. Dort klebte sie ein paar Momente, was du so faszinierend fandest, dass du wie ein Beobachter der auf die Ankunft von Aliens wartet, mit dem Kopf im Nacken nach oben geschaut hast. Natürlich blieb die Wurst dort nicht lange kleben und landete irgendwann mitten in deinem Gesicht. Wir haben uns kringelig gelacht. Du fandest das hingegen nicht so witzig und hast fast den ganzen Tag geheult. Seitdem hast du kaum jemals wieder eine Scheibe Wurst angefasst.« Precious beginnt lauthals zu lachen.

      Verzückt über den kleinen Fortschritt ihrer Tochter, blickt Sam strahlend vor Glück zu Precious. Neve schaut sie ebenfalls lächelnd an, bis ihr Blick über den Körper ihrer Frau gleitet. Den Körper den Sam neuerdings so sehr hasst und deswegen versteckt.

      Sie beobachtet ihre Frau dabei, wie sie Jean in den Kinderstuhl zurücksetzt, ihr einen Kuss auf den bombastischen Haufen Haare drückt und dem morgendlichen Ablauf weiter nachgeht. Precious lacht hingegen noch ein wenig über ihre eigenen kindlichen Handlungen, bis sie beginnt ihr Frühstück zu essen.

      Bevor sich Sam an den Tisch setzt, stellt sie ihren Frauen jeweils noch ein Glas mit Acerolapulver und drei Tropfen D3 hin, daneben zwei Kapseln B12. Sie hat Wochen damit verbracht zu recherchieren welche Vitamine wo und in welcher Form angeboten werden. Medikamente wurden nach und nach aus dem Haushalt verbannt, bis auf Neves Herztabletten. Für die konnte Sam bis heute keinen natürlichen Ersatz finden. Es passt ihr zwar nicht, dass Neve alle Nase lang diese, eigentlich ungesunden Chemiebomben schlucken muss, weiß aber auch, dass es ein notwendiges Übel ist.

      Also umgeht sie weiterhin die Lebensmittel- und Pharmaindustrie indem sie aus dem Ausland Vitamine in reiner Substanz bestellt und ihrer Familie täglich verabreicht.

      Ihre Gemüsebeete im Garten wachsen und gedeihen prächtig. Sie hat sogar noch ein zweites angelegt, kurz nachdem der Anbau am Haus beendet war. Das Nachbargrundstück wurde von den Frauen aufgekauft, das Haus abgerissen, ein Pool gebaut, Beete angelegt und das eigene Haus mit drei Zimmern erweitert. Jetzt hat deren Haus schon fast dieselbe Größe wie Matts ehemalige Villa. Denn diese verließ er kurz nach der Sache mit Niklas. Er wollte dort nicht mehr leben, wo dieser Verräter sich so heimisch gefühlt hat und Sam regelrecht gefangen hielt. Er wollte einen Neuanfang und fand ihn zusammen mit Jill in der Nähe seiner Kids. Jeder der Hunde braucht nur dreimal umfallen und schon stehen sie vor der Haustür des anderen. Jeder hat sein eigenes Leben, dennoch brauchen sie nur einen erstklassigen Pitch werfen und sind sich somit unfassbar nah.

      Nach dem Frühstück verteilt Sam das Mittagessen an ihre Frauen. Precious bekommt wie immer selbstgemachtes Brot und ebenfalls selbstgemachte Müsliriegel mit. Eine Banane rundet das ganze Essen ab. Natürlich darf eine Flasche mit frischen Smoothie nicht fehlen.

      Neve erhält ebenfalls diesen Smoothie, bekommt allerdings nur eine Dose mit, in der Walnussstücke, Cashewkerne, getrocknete Aprikosen und Datteln in einem Soja-Joghurt schwimmen. Auch wenn sie dieses Essen wie ein Junkie inhaliert, verrät sie Sam nichts davon, dass sie sich hin und wieder einen saftigen Hot Dog gönnt, oder einen schmierigen Burger vom Schnellrestaurant. Jill hat sie zum Stillschweigen verdonnert, ansonsten würde Neve ihrer Frau ganz hinterhältig erzählen, dass Jill erneut versucht hätte sie zu küssen. Und was Sam dann mit ihr anstellen würde, wissen beide.

      Mit Precious im Schlepptau verabschiedet sich Neve von ihrer Frau, die Jean wie jeden Tag mit ins Büro nimmt. Beide Frauen haben ihre jeweiligen Jobs etwas reduziert. Neve nimmt nicht mehr jeden Auftrag beim FBI an und sitzt zum größten Teil nur noch hinter dem Schreibtisch, während Sam fast ausschließlich in der Immobilienfirma arbeitet. In ihrem Büro hat sie eine kleine Ecke für Jean fertiggemacht, weil sie ihren Zwerg noch nicht in einer Krippe abgeben wollte. Es würde ihr dann so vorgekommen, als wenn sie sie abschieben würde. Das konnte und wollte Sam einfach nicht. Und wie es sich bis zum heutigen Tag herausstellte, war es auch kein Fehler. Jean spielt für sich alleine in ihrer Ecke, schläft auf ihren Spielsachen ein und fordert nur selten die Aufmerksamkeit ihrer Mutter ein.

      Als Sam eines Tages allerdinge einen Haufen Haare vor ihrem Schreibtisch erblickte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. An der vorderen Kante des Tisches sah Sam ein paar Haare, die definitiv zu ihrer Tochter gehörten. Aber wie kamen die dorthin?

      Langsam erhob sich Sam aus dem Stuhl und spähte über den Rand. Als sie dann ihre Tochter vor dem Tisch stehen sah, fielen ihr die Augen aus dem Kopf. Bis zu diesem Tag versuchte Jean nie zu laufen. Sie robbte nur auf ihrem Arsch von A nach B. Sie schien zu faul zu sein, um ihre Beine zu bewegen. Dass sie damals aber auf ihren eigenen Beinen den Weg von ihrer Spielecke bis zu Sams Schreibtisch ganz alleine und ohne jegliche stützende Hilfe auf sich nahm, ließ Sam an ihrem Verstand verzweifeln. Auf der einen Seite war sie sauer auf sich, dass sie so in ihre Arbeit vertieft war, dass sie Jeans ersten Schritte nicht sah, war auf der anderen aber unfassbar stolz auf den kleinen Hosenscheißer. Sie rief damals ihre Frau an und erzählte ihr quiekend, heulend und lachend was passiert ist. Seitdem nutzt Jean ihre Füße nur hin und wieder. Dann wenn sie Lust hat. Sie kommt ganz nach ihrer Mutter. Sie macht auch nur dann etwas wenn sie es will, oder für richtig hält. Niemand kann sie zu etwas zwingen was sie nicht will. Jean ahmt ihrer Mutter also fleißig nach.

      ***

      Im verabredeten Cafe gegenüber von R&R Immobilien begrüßt Neve am Nachmittag Laura mit dem gewohnten Kuss, setzt sich und erzählt ihr gleich was mit ihrer Frau los ist. Laura prustet ihr fast den Milchkaffee ins Gesicht, weil sie Neve kaum glauben kann.

      »Hässlich? Sam findet sich hässlich? Tickt die nicht mehr ganz richtig?