tut mir leid«, sagte er. Er sah sie an, als würde er sie am liebsten in die Arme schließen, doch dieser Gedanke wäre ihm niemals gekommen. Er machte seinen Job seit mehr als drei Jahrzehnten und hatte bereits einige Dutzend dieser Nachrichten überbracht. Er hatte gelernt, es emotional nicht an sich heran zu lassen, ganz gleich wie jung, sympathisch und am Boden zerstört die Patienten waren.
Sie starrte auf ihre im Schoß gefalteten Hände und ihr kam der absurde Gedanke, dass die Fingernägel der Daumen unterschiedlich lang waren, wenn auch nur minimal.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte er. »Vor Ihnen auf dem Tisch stehen eine Karaffe und ein Glas. Gießen Sie sich gerne Wasser ein.«
Es war keine Unhöflichkeit, dass er das Wasser nicht für sie eingoss. Es war wichtig, dass Menschen nach dem Erhalt einer schockierenden Nachricht einen Energieausgleich erhielten. Selbst die kleinsten selbstausgeführten Handlungen hatten den großen Effekt, dass sie dem Gehirn signalisierten, dass die Kontrolle nicht verloren ging.
Sie antwortete nicht.
Er wusste aus Erfahrung, dass er ihr einen Moment Zeit geben musste. Zeit, die nicht übrig war, aber die er ihr zu schenken hatte. Es war das Mindeste, was er für sie tun konnte – und zugleich das Einzige.
»Finden Sie es gerecht?«, durchbrach sie schließlich die bedrückende Stille. Ihre Stimme war dünn.
Die Frage überraschte ihn nicht, denn sie war ihm an dieser Stelle bereits häufiger gestellt worden.
»Das Schicksal fragt nicht nach Gerechtigkeit«, antwortete er. Es war seine bewährte Standardantwort auf diese Frage.
Sie nickte leicht. »Vor drei Jahren brachte eine Freundin einen Jungen auf die Welt. Sie und ihr Mann wussten, dass der Kleine nur wenige Minuten lang leben würde. Ein seltener Gendefekt, der spät während der Schwangerschaft festgestellt worden war. Meine Freundin bat einen Fotografen, im Kreissaal dabei zu sein. Nach der Geburt machte er zauberhafte Aufnahmen von den Eltern mit dem Kind. Ich habe die Fotos gesehen. Trotz aller Schönheit ist jede Aufnahme ein Stich ins Herz. Sie hatten genau zwölf Minuten zu dritt. Nur zwölf Minuten nach dem ersten Schrei war das Leben des Jungen auch schon wieder vorbei. Das Schicksal hatte beschlossen, dass dieses unschuldige Kind lediglich eine Handvoll Minuten lang leben durfte. Das war verdammt noch mal nicht gerecht. Manchmal ist das Schicksal ein ziemliches Arschloch.«
Er schwieg. Was hätte er auch sagen sollen?
Sie blickte aus dem Fenster und sagte tonlos: »Es regnet. Wir haben Anfang Februar, also sollte es schneien. Scheinbar ist im Moment einiges nicht so, wie es sein sollte oder wir es gerne hätten.«
Sie stand auf und musste die Hände zur Hilfe nehmen, um es aus dem Stuhl heraus zu schaffen.
»Ich werde Ihnen etwas zur Beruhigung geben«, sagte er.
»Nein. Ich werde bald genug Pillen schlucken müssen.«
»Sind Sie alleine hergekommen?«
Sie nickte.
»Mit dem Auto?«
Sie nickte erneut.
»Jemand sollte Sie abholen.«
»Das ist nicht notwendig.«
»Bitte seien Sie vernünftig und lassen Sie den Wagen hier stehen. Sie sollten sich jetzt nicht hinters Steuer setzen. Niemand kann voraussagen, wie Sie zeitversetzt reagieren werden.«
»Also dass ich durchdrehe und andere Verkehrsteilnehmer gefährde?«
»Nun, wenn Sie so direkt fragen: ja.«
»Sie sind hier der Fachmann, also höre ich auf Sie. Na schön, dann will ich nicht bockig sein und gegenüber meinen lieben Mitmenschen verantwortungsvoll handeln. Ich nehme ein Taxi.«
Er erhob sich von dem Ledersessel und reichte ihr die Hand.
»Rufen Sie mich morgen Vormittag an«, sagte er.
»Wozu? Um mit Ihnen über den Regen zu sprechen, der jetzt eigentlich Schnee sein müsste? Selbst, wenn der Regen morgen Vormittag Schnee sein sollte, ändert das nicht das Geringste – zumindest nicht für mich.«
Mit diesen Worten verließ sie den Raum.
Er sah ihr hinterher, und nachdem sie aus seinem Sichtfeld verschwunden war, setzte er sich wieder. Dafür, dass sich die Welt dieser Frau noch vor wenigen Minuten gedreht hatte und nun plötzlich still stand, hatte sie sich erstaunlich gut gehalten. Andere Menschen brachen zusammen oder schrien, einige hatten ihn im Effekt sogar ins Gesicht geschlagen.
Sehr schade um sie, dachte er, und sehr traurig für die Menschen, die sie lieben.
8.
In diesem Moment begriff Lars mit aller Wucht, dass Zeit sich niemals nachholen ließ. Erst am frühen Abend war er aus Budapest zurück gekehrt, wo er sich zur Netzeinspeisung einer Photovoltaik-Anlage den ganzen Tag lang mit einem örtlichen Energieversorger herumgeärgert hatte. Und nun saß er zuhause auf dem Wohnzimmersofa und unter ihm tat sich der Boden auf. Er fiel. Tief und immer tiefer, und während er ins Bodenlose stürzte, wurde ihm übel und in seinen Ohren tobte ein Orkan.
Irgendwann spürte Lars eine Hand auf seinem Knie, doch es verging ein weiterer Moment, bis er wieder im Hier angekommen war und seine Umgebung sich zu einem ganzen Bild zusammengesetzt hatte.
Die Deckenbeleuchtung war gedimmt und die Vorhänge waren zugezogen. Im Ofen loderte das Feuer. Neben ihm saß Melanie im Schneidersitz. Sie trug eine Jogginghose und eine von Lars' Sweatshirt-Jacken. Ihre Augen waren verweint und ihr Mund zu einem Strich zusammengepresst. Seit Lars sich heute in aller Herrgottsfrühe von ihr verabschiedet hatte, schien Melanie um Jahre gealtert zu sein.
Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ein langes und hölzernes Wort mit einer unmissverständlichen Botschaft: Tod.
»Der Arzt sagt, dass die Schmerzen ziemlich stark sein werden«, sagte Melanie tonlos. »Er sagt, man könne es mit einer Bestrahlung versuchen, doch die Chance auf Erfolg liegt bei einem Prozent. Das bedeutet, dass neunundneunzig Prozent nicht damit einverstanden sind, dass ich weiterlebe.«
»Das sind nichts weiter als dämliche Zahlen«, sagte Lars mit krächzender Stimme, »eine Statistik, mehr nicht.«
Melanie blickte ins Ofenfeuer und sagte leise: »Machen wir uns nichts vor. Es ist aussichtslos.«
»Nein«, stieß er hervor und packte sie am Unterarm. »Ist es nicht! Wir müssen nach jeder Chance greifen. Egal wie klein sie im Moment auch erscheint, du wirst es schaffen und den verdammten Krebs besiegen. Wir dürfen nichts unversucht lassen, du musst dich bestrahlen lassen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Prozent ist keine Aussicht. Diese Art von Krebs lässt sich nicht auf Spielchen ein. Wir sollten keine Zeit mit Sinnlosem verschwenden, sondern in den näch-sten Tagen damit beginnen, Vorbereitungen zu treffen.«
Für die Zeit danach, vervollständigte Lars den Satz in Ge-danken, wenn du nicht mehr da bist.
Er sah Melanie an. Seine Frau. Krebs. Wie war das möglich? Sie hatte nie geraucht, trank nur wenig Alkohol, ernährte sich vernünftig. Und sie war jung, auf jeden Fall zu jung zum Sterben.
Melanie warf ihm den Anflug eines Lächelns zu, das tapfer wirken und ihn aufmuntern sollte, doch die Leere in ihren Augen machte die angedachte Wirkung zunichte.
»Wieso so plötzlich?«, fragte er. »So aus heiterem Himmel. Wie ist das möglich?«
Sie antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: »Es ist nicht aus heiterem Himmel. Ich hatte bereits seit einiger Zeit das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.«
Er sah sie staunend an. »Seit wann?«
»Mitte Dezember.«
Lars blieb die Luft weg. Mitte Dezember lag bereits sechs oder sieben Wochen zurück.
»Melli,