ist gefährlich, bitte …“
„Hosenscheißer“, wisperte sie und sah nach vorne. Ein leichter Nebel legte sich um ihre Füße wie eine durchsichtige Schlange und ließ das wenige Mondlicht hell erstrahlen. Nebel am Abend? Was war das nur für ein geheimnisvoller Ort? Langsam schlich sie weiter, während der Nebel um ihre Schuhe quoll. Nach wenigen Herzschlägen meinte sie, die 30 Fuß problemlos erreicht zu haben.
„Ich bin im Wald“, schrie sie und drehte ihren Kopf zu ihren Freunden. Doch da war niemand mehr. Der Waldrand, der sich eben noch schemenhaft abbildete, war von der Dunkelheit verschluckt worden und aufkommender Nebel verwirrte ihren Blick. „Hallo?“
Marie sah sich um und ging in die Richtung, von der sie meinte, gekommen zu sein. Erst lächelte sie noch und rief freudestrahlend, dann beschleunigte sich ihr Schritt. „Hallo? Ich habe es geschafft, wo seid ihr?“ Maries Beine begannen schneller zu laufen. Das waren definitiv mehr als dreißig Fuß.
Viel mehr.
Und noch immer konnte sie nichts erkennen. Alles sah gleich aus. Riesige Bäume, leichter Nebel, sattes, grünes Moos und vereinzelte Mondstrahlen, die durch die Kronen rieselten.
Maries Herz begann wie wild zu pochen. Überhastet sah sie sich um und versuchte einen bekannten Ort auszumachen. Da war nichts, gar nichts. Sie presste die Hände auf die Lippen, um sich selbst das Atmen zu verbieten, und hoffte inständig, den Ruf ihrer Freunde ausmachen zu können.
Die Stille schmerzte wie hundert Messerstiche.
Das konnte doch nicht sein. Hatten die barmherzigen Götter sie im Stich gelassen? Marie versuchte die wachsende Panik herab zu kämpfen. Noch einmal sah sie sich um. Kam ihr dieser riesige Stein nicht bekannt vor? Sie war doch eben an einem ähnlichen Geröllhaufen vorbeigelaufen. Ohne einen weiteren Herzschlag zu verlieren, nahm sie die Beine in die Hand und spurtete in die Richtung, in der sie den Ausgang vermutete. Von der Kraft der Verzweiflung getrieben, schoss sie über kleine Bäche hinweg, Stock und Stein nahm sie wie ein junges Rehkitz, ihren Arbeitsrock dabei fest gerafft. Sie bemerkte, wie ihr Busen beinahe aus der Bluse hüpfte, schnürte sie im Laufen enger und sah sich nicht ein einziges Mal um, als bis ihre Lungen brannten und ihr Gesicht glühte.
Wieder schoss ihr Gesicht in alle Richtungen. Bei den Göttern, sie war minutenlang gelaufen, den Waldrand hätte sie längst passieren müssen. Noch einmal holte sie tapfer Luft, um sich dann einzugestehen, dass sie sich wirklich im verbotenen Brandwald verlaufen hatte.
Sie war völlig allein, die Dunkelheit umschloss sie immer mehr und nun nahmen auch noch die Geräusche zu. Der warme Wind streichelte über ihre Haut und löste trotzdem ein kühlendes Gefühl aus, sodass eine Gänsehaut sich ihrer bemächtigte. Der Ruf des Uhus wurde eindringlicher und der Wald hatte seine Stille verloren. Es rauschte, knackte und blies nun an allen Ecken und Enden.
Maries Kopf fuhr herum. Hatte sie gerade etwas erspäht? Hoch in den Baumwipfeln und tief bei den Wurzeln? Die Bewegungen waren nun allüberall. Sie nahm sich einen Stock und griff ihn mit beiden Händen so fest, dass ihre Knöchel weiß anliefen. Dieser Wald schien zu leben. Marie wurde das Gefühl nicht los, von unzähligen Augen angestarrt zu werden.
Als dunkle Lider in der Dunkelheit geöffnet wurden und sie in glühende, gelbe Augen starrte, meinte sie, den Verstand verloren zu haben. Ihre Kehle war staubtrocken, jeder Muskel zitterte und doch hob sie den Ast in die Richtung der gelben Augen. Hastig sah sie sich um. Es wurden mehr, immer mehr, bis sie in die Armee aus gelben Pupillen blickte, die sich langsam näherte.
Als die Gestalten in das Mondlicht traten, wäre Marie beinahe umgekippt. Noch nie hatte sie so große Wölfe gesehen. Die Biester waren fast so riesig wie Pferde. Doch das war es nicht, was ihre Sprache verschlang und ihre Beine zittern ließ, sondern die fahlen Kreaturen, die neben ihnen gingen.
Sie sah Skelette, Untote und Gespenster in allen Formen. Einige glühten, anderen hing die Haut vom Leib und über allem thronte das Gelächter der Knochenmenschen.
„Bitte.“ Marie ging einige Schritte zurück, den Blick nicht von der Armee der Finsternis nehmend. „Bitte … es tut mir leid.“
Ein weiterer Schrei fuhr tief in ihre Glieder und ließ sie sich ducken. Fledermäuse, so groß wie Kälber, fegten über ihren Kopf hinweg. Selbst im fahlen Licht blitzten ihre messerscharfen Zähne hervor. Sie war beinahe umzingelt, die Vielzahl der Monster wurde nur von ihrem Schrecken übertroffen. Sie sah Soldaten auf Pferden, ohne Haut, nur mit Knochen, lange Lanzen streiften durch die Bäume, während die riesigen Blutwölfe sie nicht aus den Augen ließen.
Das war es.
Marie war am Ende.
Dies musste ein Traum sein, ein gemeiner, hinterhältiger Albtraum. Vielleicht lag sie noch mit Johann im duftenden Korn auf dem Speicher ihrer Adoptiveltern und war kurz in den Schlaf gefallen. Doch der moosige Geruch, die glühenden Augen und die Schreie der riesigen Fliedermäuse waren einfach zu real für einen Traum.
Marie schloss die Augen, Tränen rannen über ihre Wangen und doch war ein letzter Stolz nicht von der Hand zu weisen. Sie drehte sich um und nahm alle Kraft zusammen. Wütend über sich selbst lief sie durch den Wald, während hinter ihr die Meute tobte. Ihre Füße verfingen sich in Wurzeln, sie stolperte, raffte sich wieder auf und versuchte die Schreie der Skelette zu ignorieren.
An einer Lichtung schmerzten ihren Beine so sehr, dass sie meinte, Feuer würde durch ihre Blutbahnen laufen. Ein kurzer Abhang ließ sie straucheln, schließlich fiel sie hinab, überschlug sich ein paar Mal und stieß ihren Kopf gegen einen einsamen Baum auf der Lichtung.
Um sie herum sammelten sich die Kreaturen, über ihre Köpfe sausten die Fledermäuse und auch die Reiter hatten sie mühelos eingeholt. Während die Nachtwölfe ihre Zähne fletschten, schlichen sie um ihr Opfer herum. Marie kamen erneut die Tränen und das Blut lief über ihre Stirn in ihre Augen. Sie zog die Beine an sich heran, kauerte sich sitzend an den mächtigen Stamm, atmete schwer und gepresst. In einer letzten verzweifelten Tat schloss sie die Augen. „Bitte … verzeiht mir. Bitte …“
Kapitel 3 – Gebrochene Regeln
Mit einem Mal war es wieder so still, als wäre der gesamte Wald tot. War sie schon im Jenseits? Hatten die großen Götter sie zu sich gerufen?
„Du gehörst hier nicht hin.“ Sie Stimme war sanft, tief und melodisch, als würden die Priester des Mondes ihr Abendgebet sprechen.
Noch immer presste Marie ihre Hände über die Augen und traute sich nicht, ihre Lider zu heben. Am liebsten würde sie sich ungesehen machen. Der frische Duft von Moos drang nun verstärkt in ihre Nase, dazu eine undefinierbare Mischung aus wohlriechenden Ingredienzien. Sie zitterte am ganzen Leib, ihre Haut glühte, doch als eine kühle Hand ihre Finger berührte, beruhigte sich plötzlich ihr Herzschlag.
„Du bist hier wegen einer Mutprobe. Habe ich nicht recht?“, wollte die unbekannte Stimme wissen.
Der sanfte Ton besänftigte ihren Verstand. Endlich traute sie sich, die Augen zu öffnen. Vom Mond angeschienen sah sie in ein fein geschnittenes Gesicht mit dunklen, fast schwarzen Augen. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte die schmalen Lippen des attraktiven Mannes in feinster Kleidung. Obwohl sie keinen Wind spürte, spielte eine Brise mit dem lockeren Scheitel des Mannes. Er war ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein paar Winter älter, trotzdem war die Haut so glatt wie die eines Kleinkindes, mit dem Unterschied, dass sie so hell war wie die eines Adeligen.
Mit einem Mal verschlang es Marie den Atem und sie brauchte mehrere Anläufe, um ihre Stimme wiederzufinden. „Ihr, Ihr seid …“
„Graf Alexander von Hartstein.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Und du befindet dich im Wald unserer Familie.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Wegen einer Mutprobe. Ist dir bekannt, dass du den Frieden aufs Spiel setzt?“
Woher wusste er das nur? Hatte er sie etwa beobachtet?