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Maxi Hill
Die Nacht der Schuld
Vier Menschen zwischen abgöttischer Liebe, teuflischer Eifersucht und verstörender Angst
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Inhaltsverzeichnis
MONTAG, 20. MAI — POLIZEIREVIER
⸙ RENÉE UND DIE STEINHEILERIN ⸙
DIE WAHRHEIT HINTER DER WAHRHEIT
FREITAG —17. MAI
Dr. Holger Bach schließt den Rechner, schaltet den Beamer aus und schiebt seinen Stuhl, den er nie benutzt, zurück unter den Tisch. In all seinen Vorlesungen steht er vor dem Auditorium, das erhöht seine Autorität. Nicht zuletzt zeigt es seine Macht, selbst über seine Position entscheiden zu können. Seine Zuhörer haben dieses Recht nicht.
Die letzten seiner Studenten trollen sich aus dem Vortragsraum, nur Viola Svenson steht und wartet — scheinbar unschlüssig — aber er weiß genau, sie hat wieder irgendeine dieser Frage, die ihr immer einfallen. Vermutlich will sie ihm damit ein besonderes Interesse an seinen Vorlesungen bekunden und weiß nicht, womit sonst, als mit lächelndem Gesicht interessiert zu tun.
Viola ist die Tochter des Steuerberaters, den Doktor Holger Bachs Frau Renée vor ein paar Jahren überzeugen konnte, ihr die Grundlagen für die Steuerabrechnung beizubringen. Renée ist der Prototyp eines Selfmade-Menschen.
Zum Ausgleich hatte Elmar Svenson später, als seine Tochter Viola vor dem Abitur stand, logischerweise Dr. Bach gebeten, seine Tochter in Mathematik zu unterstützen, was Holger Bach nicht konnte. Seine Sache war Mathe nie, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Von jeher fragt er sich, warum alle Welt glaubt, Dozenten würden kluge Allrounder sein. Dabei sind Lehrkräfte generell die größten Fachidioten, die die Welt kennt. Das müssen sie auch sein. Ihre notwendige Erhabenheit im Fachgebiet lässt keine Schwächen zu, was heißt: Ihre Kapazität ist bei der heutigen Informationsflut und
-erschließbarkeit völlig ausgeschöpft. Über den Dingen zu stehen, wird jedoch von einem Dozenten — einem Lehrer generell — unbedingt erwartet.
Irgendwann ergab sich die Chance zum Dank für Svensons Hilfe. Renée hatte Holger dazu geraten. Violas Bewerbung an der Kunsthochschule war ins Leere gelaufen. Nun war es nicht üblich und schon gar nicht leicht, aber er konnte seinen Einfluss geltend machen, das Mädchen an seiner Fakultät unterzubringen, wofür sie ihm noch immer dankbar zu sein scheint. Auch hat sich ihre Abneigung gegen kompliziertes Zahlenjonglieren mittlerweile verloren, wie ihm sein Kollege Dr. Dreier unlängst bestätigt hat.
Viola Svenson spürt, dass Doktor Bach heute nicht in der gewohnten Stimmung ist. Weder mit Worten, noch ist er über ihre Begleitung bis zum gemeinsamen Wohnblock erfreut. Bisweilen gingen sie freitags nach der letzten Stunde den Weg vereint, und es gab stets etwas zum Schmunzeln und etwas für den Aha-Effekt. An diesem Tag scheint ihn anderes zu beschäftigen, von dem er nicht loskommt — offenbar gar nicht loskommen möchte.
»Planen Sie wieder eine Ihrer langen Radtouren?«, fragt sie aus reiner Verlegenheit. »Das Wetter soll so schön bleiben.«
Das Ehepaar Bach ist im ganzen Wohnblock bekannt für ihre Passion, lange Radtouren zu unternehmen, und auch sonst sind die beiden noch immer ein Herz und eine Seele — wie es jeder bescheinigen würde.
Viola weiß, dass Dr. Bachs Frau Renée mit Worten zurückhaltender ist als ihr Mann, aber wenn sie einmal spricht, dann ist sie sehr nett und mit großer Sensibilität ausgestattet — sogar für die Probleme der jungen Generation.
Ihre Frage passt Dr. Bach jetzt nicht, das spürt Viola nur allzu deutlich. Er wird jetzt nicht antworten. Warum ihn eine so lapidare Frage unangenehm ist, kann sie nicht beantworten, aber sie ist mit weiblichen Antennen ausgestattet, was sie veranlasst, so zu tun, als müsste sie noch dringend durch das Einkaufscenter gehen. Sie verabschiedet sich von ihrem Dozenten, wünscht ihm und seiner Frau ein gutes Wochenende und schwenkt ein zum Westausgang der Einkaufsmeile.
Zerknirscht geht Holger Bach das letzte Stück seines Weges. Sein Kopf ist leicht nach vorn gebeugt, die Schritte werden immer schwerer, immer zögernder.
Gestern hatte es einen dummen Streit mit Renée gegeben und der liegt ihm noch im Magen. Aber das von heute Morgen, das war bisher nur ganz selten in seiner Ehe passiert, obwohl es in den Jahren durchaus hätte passieren können. Es war aber nicht passiert, Renée ist immer rechtzeitig wieder vernünftig geworden.
Warum ändert sich das Leben mitunter so abrupt? Warum wird aus einem liebenswerten Menschen mit der Zeit ein Wesen, das man himmlisch begehrt und zugleich höllisch verachtet, das man überaus liebt und doch gelegentlich zutiefst kränken möchte?
Sie waren jetzt mehr als dreißig Jahre verheiratet. Waren? Er erschrickt vor sich und seinen Gedanken, die lediglich der zurückliegenden Zeit geschuldet sind, wie er sich einredet. Sein Leben mit Renée war lange Zeit glückselig. Später hatte es überwiegend aus Momenten bestanden, die ihn zweifeln ließen, ob es noch Liebe war oder nicht. Er glaubte sogar, nicht nur er fühlte sich zerrissen, auf alle Fälle aber nach einem Ausweg suchend, wie jeder von ihnen unbeschadet aus seinen