»Hm«, machte sie schlaftrunken. »Es war viel zu tun. Ich war müde. Wie spät ist es?«
»Die Sonne ist aufgegangen.« Er setzte sich auf die Bettkante und zwirbelte eine ihrer Haarsträhnen um seine Finger. »Hör zu, ich habe mit Vater gesprochen. Er ist einverstanden, dass du keine Blutsklavin mehr sein wirst. Als Ausgleich wird einer der Feldarbeiter, Amal, Blutsklave. Sein gebrochenes Bein ist so schlecht zusammengewachsen, dass er nicht mehr auf den Feldern arbeiten kann.« Die Feldarbeiter waren vom Blutdienst befreit, da sie die meiste Zeit außerhalb der Festung verbrachten.
»Das … das heißt, wirklich keinen Blutdienst mehr?«
»Ja. Mit Ausnahme von mir.« Er küsste sie. »Dieses Privileg möchte ich mir nicht nehmen lassen.«
Eine tiefe Erleichterung durchströmte sie. Inams Angriff hatte nicht nur körperliche Spuren hinterlassen. Insgeheim hatte sie den Tag gefürchtet, an dem sie wieder zum Blutdienst gerufen werden würde. Sie hatte auf entsetzliche Weise gelernt, dass sie Vampiren hilflos ausgeliefert war. Inam hätte sie töten können. Und wer wusste, ob sich unter den Räten und ihren Begleitern nicht jemand befand, der ähnlich wie Inam dachte und handelte?
»Aber«, fuhr Maksim fort, »du wirst Amal auf den Feldern ersetzen müssen. Es ist eine Auszeichnung, dass Vater damit einverstanden war. Er sieht nur die zuverlässigsten Sklaven für die Feldarbeit vor.«
Ihr Herz zog sich furchtsam zusammen. Sie würde außerhalb der schützenden Mauern der Festung sein, durch die finsteren Wälder wandern, an der Flanke des Berges vorbei, wo es manchmal Steinschläge gab, hin zu den unter dem weiten Nachthimmel ungeschützt daliegenden Feldern. Da draußen lauerten so viele Gefahren! Doch sofort schalt sie sich. Sie musste vernünftig sein. Den Feldarbeitern war nie etwas passiert. Sie wurden von Kriegern beaufsichtigt, die sie gegen einen Bären oder Wajarenbanden verteidigen würden. Es war in jedem Fall eine bessere Aussicht, als den Räten zum Blutdienst zur Verfügung stehen zu müssen.
Sie lächelte ihn an und hob einladend die Arme. »Vielleicht können wir ja dann diese Höhlen ausprobieren, die du erwähnt hattest?«
Maksim beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie lange und innig und ließ sich von ihr aufs Bett ziehen. »Die brauchen wir nicht«, murmelte er, bevor die Welt um sie versank.
Kapitel 23
Der Frühling begann mit lauen Winden. Auf den Berghängen sprossen Gräser und Blumen und an den Bäumen zeigten sich die ersten Knospen.
Maksim und Rodica trafen sich weiterhin in seinem Gemach. Sie achtete darauf, dass niemand sie beim Betreten des Raumes sah, auch wenn diese Heimlichtuerei nicht mehr nötig war. Emese war immer noch nicht mit ihrer Liebe zu Maksim einverstanden, machte ihr jedoch keine Vorhaltungen mehr. Auch Vazha hatte es nach einigen Versuchen aufgegeben.
Bei jeder Gelegenheit beobachtete Rodica die Räte, die auf der Festung einzogen. Da war Hroar Gisher, mit geckenhaft langem Haar. Raiden Tyr, der ein Gesicht hatte, das an einen Falken erinnerte, und von seinem Sohn Damien, einem riesigen Krieger, begleitet wurde. Aibek, ein unscheinbarer Mann, von dem Rodica meinte, dass seine Augen gierig glitzerten, wenn er ihr im Flur begegnete. Die Fürstin Shazad, die sich in ihren schwarzen Gewändern wie eine Priesterin ausnahm. Und einige andere mehr.
Sie bekam die Räte nicht häufig zu sehen, da sie den größten Teil der Nacht mit Feldarbeit verbrachte. Die Felder wurden auf die Aussaat vorbereitet. Rodica gehörte zu den Pflügern. Sie lenkte zwei schwere Pferde, die die Pflugschar hinter sich herzogen und musste darauf achten, dass die Furchen gerade verliefen und gleichmäßig tief waren. Die Arbeit mit dem Pflug war anstrengend und wenn sie morgens zurück nach D’Aryun kam, war sie vollkommen erschöpft.
Zu ihrer großen Überraschung genoss sie die Aufenthalte außerhalb der Festung. Eine neue Welt eröffnete sich ihr, die nicht furchterregend sondern fesselnd war. Das Rauschen der Bäume in den dunklen Wäldern, durch die sie auf dem Weg zu den Feldern wanderten. Nachttiere, die vor ihnen ins Unterholz flohen. Der Geruch von feuchter Erde. Über alldem die vom Mond beschienen schneebedeckten Gipfel der Berge und der unendliche dunkelblaue Nachthimmel, an dem Sterne wie Diamantensplitter funkelten.
Sie fragte sich, was nach den Bergen kam und stellte sich den Weg des Baches vor, der dem See entsprang. Wie er in den Fluss mündete, dessen Wasser um bemooste Felsbrocken floss und über die Äonen tiefe Schluchten ins Gestein fraß. Tosende Wasserfälle, die einem kühle Gischt ins Gesicht sprühten. Bäume, in deren tief über dem dahineilenden Wasser hängenden Ästen sich Zweige und Grasbüschel, vom Hochwasser der Schneeschmelze mitgerissen, verfingen. Wie der Fluss sich in die weiten Niederungen der Grasländer ergoss.
Als sie Maksim davon berichtete, lächelte der. »Warum lächelst du?«, fragte sie.
»Das ist Freiheit.«
»Was ist Freiheit?« Sie runzelte die Stirn.
»Dem Bach folgen zu können, herauszufinden, was sich an seinem Ende befindet.«
»Das würde ich gerne. Zusammen mit dir.«
»Und ich mit dir.« Er fuhr leicht mit dem Daumen über ihre Wange. »Zelinkan und ich haben heute übrigens unsere Ideen im Rat vorgestellt.«
»Und?«
»Nun ja. Einige der Räte sind auf unserer Seite, andere nicht.« Ein düsterer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Aber alle sind sich einig, dass uns alsbald das Menschenblut ausgehen wird.«
»Was wollen diejenigen, die mit euren Vorschlägen nicht einverstanden sind, dagegen unternehmen?«
»Die Menschen im Niemandsland unterwerfen.« Er seufzte. »Das würde das Unvermeidliche nur hinauszögern. Als ich das sagte, meinte Hroar Gisher, wir sollten einen Plan entwickeln, um die Grasländer zu queren und die Städte der Menschen zu erobern. Er sei der Überzeugung, dass wir nur dickwandige Zelte bräuchten, in denen wir uns vor der Sonne schützen können. Die Städte selbst, denkt er, sind leicht zu überrennen.«
Rodica kicherte. »Das macht es den Städtern einfach. Sie überfallen das Vampirlager bei Tag, zerstören die Zelte und lassen die Sonne die Arbeit machen.«
»Stimmt. Daran hatte Gisher natürlich nicht gedacht. Und das war ihm noch nicht einmal peinlich. Stattdessen, so argumentierte er, könnten wir Kundschafter schicken, um Höhlen in den Grasländern ausfindig zu machen, und diese Höhlen für einen Feldzug nutzen.«
»Aber ich denke, es gibt in den Grasländern keine Höhlen?«
»Das haben frühere Erkundungen gezeigt. Allerdings, da muss ich Gisher recht geben, konnten wir wegen unserer Sonnenempfindlichkeit nicht wirklich ausgedehnte Erkundungen vornehmen. Selbst wenn: Die Grasländer trügerisch. Viele denken, dass es nur weite Ebenen und Hügel mit spärlichen Bewuchs sind. Aber es gibt gerade in den westlichen Grasländern ausgedehnte Sümpfe, die schon vielen Reisenden zum Verhängnis geworden sind. Nur Wegelagerer und vielleicht der ein oder andere Fallensteller, Händler oder Viehhirte kennen sich dort aus. Und das sind alles Menschen, die einen Teufel tun werden, uns Vampiren den Weg zu zeigen.«
»Und was meinte Gisher dazu?«
»Nicht mehr viel.«
»Also wird es dauern, bis sich etwas ändert«, sagte Rodica leise.
»Ja, das wird es. Aber wir haben endlich angefangen, über die Änderungen zu sprechen. Das ist es, was zählt.«
Sie schwieg. Warin hatte gesagt, dass Maksim es stets schaffte, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Doch war er wirklich in der Lage, die Ansichten und Gewohnheiten eines ganzen Volks zu ändern? Sie wollte gern daran glauben, blieb aber skeptisch. Dass Menschen gleichberechtigt neben den Vampiren leben konnten, würde viele Winter dauern. Falls sich Maksims und Zelikans Vorstellungen überhaupt durchsetzten. Vielleicht musste Maksim sogar erst selbst Herrscher werden, war Alaric doch gegen die Änderungen. Was bedeutete das für ihre Liebe?
»Rodica.«
Aus ihren Gedanken