sich mit Schaudern an den letzten Überfall, bei dem zwei Familien verschleppt worden waren. Es war schon dunkel gewesen. Rodica und sie badeten nach der anstrengenden Feldarbeit in dem See, in dessen Nähe sie damals gesiedelt hatten. Die plötzlichen Schreie und die Rufe der Vampire ließen sie sich zitternd vor Angst im Röhricht verstecken. Erst lange, nachdem die Geräusche des Überfalls, das Weinen, Schreien und Stampfen der Pferdehufe verklungen war, wagten sie sich zu den Hütten zurück. Danach hatten sie die Siedlungsstelle aufgegeben und waren hierhergekommen. Irgendwann würden sie wieder losziehen müssen, um den Sklavenjägern zu entgehen.
Ihre Gedanken wanderten zu Gregorius, seinem verschmitzten Grinsen, den blitzenden Augen unter einem Schopf weizenblonder Haare. Es war schön mit ihm, seine lustige Art, seine Küsse, ihre Liebesnächte unten am Bach bei der Trauerweide. Allerdings nagte es an ihr, dass er kein Verständnis für ihre Träume zeigte. Für ihn stand fest, wie sein Leben verlaufen sollte. Er war ein Kleinbauer mit Leib und Seele, wie sein Vater und dessen Vater davor. Er würde sich eine Frau nehmen und mit ihr die nächste Generation seiner Familie hervorbringen, die durch das Niemandsland streifte, Ernten von den kleinen Feldern einfuhr und sich vor den Wajaren versteckte. Ihr fiel es schwer, sich vorzustellen, diese Frau zu sein. Das, was Gregorius wollte, war nicht ihr Leben. Doch was war es dann? Ein Leben in den Städten?
Rodica räusperte sich. »Mach hier weiter. Ich muss zum Melken der Ziegen. Morgen werden wir helfen, das Feld abzuernten. Wenigstens haben wir genug Getreidevorräte für den Winter. Falls wir nicht wieder vor den Wajaren fliehen müssen.«
Sie eilte hinaus, das Gesicht in sorgenvolle Falten gelegt, während Taran sich daran machte, die restliche Wäsche zu kochen und zu schrubben.
Kapitel 2
Die Zusammenkunft fand am Abend auf dem Platz zwischen den Hütten statt, auf den die tief stehende Sonne lange Schatten warf. Die Siedler hatten sich im Halbkreis auf der Erde niedergelassen. Taran saß neben Gregorius, was ihr einen hasserfüllten Blick von Cailina einbrachte. Die Alten und die Fährtensucher nahmen den Siedlern gegenüber Platz. Der Hitze trotzend trug Aldo sein weißes Wolfsfell, das Zeichen des Dorfältesten. Alle anderen waren in ihrer gewöhnlichen Arbeitskleidung erschienen, wollenen Hemden, Hosen, Röcken oder Kleidern und schweren ledernen Stiefeln.
Stille legte sich über den Platz, als Aldo sich erhob. »Ich danke euch, dass ihr gekommen seid«, sagte er. »Wie ihr seht, sind Olwenus und seine beiden Jungs wieder da. Sie werden uns über die Bewegungen der Wajaren berichten. Dann müssen wir entscheiden, ob wir hierbleiben oder noch vor dem Winter weiterziehen.«
Cailinas Mutter sprang auf. »Wenn wir entscheiden, dass wir weiterziehen, dann sollten wir auch entscheiden, ob wir nicht endlich in die Städte gehen.« Einige der Siedler rollten ungehalten ihre Augen, doch Taran hielt die Luft an. Sicher, die Städte wurden immer wieder angesprochen und man hatte sich bisher dagegen entschieden. Aber vielleicht dieses Mal?
»Hier draußen sind wir unsere eigenen Herren!«, sagte Gregorius. »In den Städten werden die Männer gezwungen, den Herrschern als Soldaten zu dienen! Ich will nicht in eine Stadt!«
Viele der Männer nickten zustimmend und Tarans Hoffnungen sanken rapide. Sie machte sich nicht die Mühe, etwas auf Gregorius Einwurf zu entgegnen, sondern warf ihm nur einen entmutigten Blick zu. Gregorius zuckte mit den Schultern.
Wie um dies zu bestätigen, rief eine der Frauen: »In den Städten herrschen Laster und Unzucht! Die Männer vertrinken ihr Gold in den Tavernen! Junge Mädchen verkaufen ihre Körper, um zu überleben!«
Reihum nickten die Köpfe.
Aldo hob die Hand. »Wir haben uns in der Vergangenheit entschieden, nicht in Städte zu gehen. Dabei bleibt es. Wer gehen möchte, kann dies tun. Wir zwingen niemanden, bei uns zu bleiben. Was wir heute besprechen müssen ist, ob wir hier überwintern oder uns einen anderen Ort dafür suchen.«
Cailinas Mutter setzte sich mit missmutigem Gesicht hin. Sie sagte nichts gegen Aldos Schiedsspruch. Es war richtig, dass niemand gezwungen wurde, bei den Siedlern zu bleiben. Doch sich allein, ohne Teil einer größeren und gut bewaffneten Gruppe zu sein, auf den Weg in die Städte zu machen, war blanker Wahnsinn. Die blaue Stadt lag im Süden, jenseits der Grasländer, am Meer. Kaum jemand lebte in den Grasländern. Einige wenige Rinderhirten streiften mit ihren Herden durch die Steppe. Aber es gab Banditen. Sie lauerten Reisenden auf und töteten sie, um sich ihrer Habseligkeiten zu bemächtigen. Wer abseits der Wege reiste, musste sich außerdem vor den trügerischen Mooren in Acht nehmen und aufpassen, dass er sich in dieser Landschaft, die überall gleich aussah, nicht verirrte. Die beiden anderen Städte der Menschen, Insan und Quadin, lagen weit jenseits des Qanicengebirges. Um sie zu erreichen, musste man das Gebirge queren, wobei man fast sicher in die Hände der Vampire fallen und den Rest seines Lebens als Blutsklave verbringen würde. Reisende von und zu den Städten, insbesondere Insan und Quadin, gab es daher nur wenige. Meist handelte es sich um wagemutige Händler, Fallensteller oder Jäger, die im Urwald Bären, Hirsche und Rehe erlegten und Fleisch und Felle in den Städten verkauften.
Aldo räusperte sich. »Der Bericht der Fährtensucher bitte.«
Olwenus erzählte von seinem Streifzug. Er beschrieb, wie sie nach Norden gezogen waren, immer entlang den Wäldern des Niemandslandes, das gewaltige Gebirge am Horizont zu ihrer Rechten und die Steppen der Grasländer zu ihrer Linken. Sie waren an Zeugnissen der Vampirkriege vorbeigekommen, von Efeu und Gestrüpp überwucherte Ruinen abgebrannter Höfe und Klöster, Wüstungen, wo einmal Dörfer und kleine Städte gewesen waren. Sie entdeckten einen verlassenen Kohlenmeiler mitten im Urwald und hatten sich bis zu den Ausläufern des Gebirges vorgewagt. »Wir fanden keine Anzeichen von Wajaren, keine Spuren, keine Höhlen, die ihnen als Unterschlupf dienen könnten. Wir haben allerdings einen Fährtensucher getroffen, der uns berichtete, dass man Wajaren weiter im Norden gesichtet habe. Sie haben dort eine Siedlung überfallen. Wir denken, dass wir uns nicht in unmittelbarer Gefahr befinden«, schloss er seinen Bericht.
»Was für ein Fährtensucher war das? War er allein unterwegs?«, wollte eine der Alten wissen.
»Nein. Er sagte, er käme zusammen mit einer Gruppe weiterer Fährtensucher aus einer der Siedlungen in den Urwäldern. Wir haben die Gruppe allerdings nicht gesehen, nur ihn.«
»War er vertrauenswürdig?«
Olwenus wiegte nachdenklich den Kopf. »Nun, er machte einen redlichen Eindruck. Und warum hätte er uns belügen sollen? Er hat nichts von uns verlangt und hat uns bald wieder verlassen. Aber wir haben darauf geachtet, dass er uns nicht verfolgt.«
»Hatte er Neuigkeiten von den Vampirstämmen?«, fragte Rodica, die hinten im Schatten einer Hütte saß.
»Er sagte, dass die Stämme wieder einmal Krieg untereinander führen. Im letzten Herbst ist Raiden Tyr gegen Maksim D’Aryun ins Feld gezogen, um ihm die Insignien der Macht abzunehmen und die Herrschaft über die Stämme an sich zu reißen.«
»Im letzten Herbst?«, bohrte Rodica nach. »Wie ist das ausgegangen?«
»Das wusste er nicht. Er glaubte allerdings, dass sie sich noch immer befehden.«
Die Siedler warfen sich erleichterte Blicke zu. Wenn die Vampire untereinander Krieg führten, ließen sie die Menschen weitgehendst in Ruhe. Einige Stammesfürsten wie Raiden Tyr, dem ein Ruf von Willkür und Grausamkeit vorauseilte, scheuten sich nicht, Wajaren als Söldner zu verpflichten. Dies verringerte die Anzahl der Angriffe auf die Siedlungen.
»Wir haben also keine Veranlassung weiterzuziehen«, stellte Aldo fest.
»Ich denke nicht«, sagte Olwenus.
Das Gefühl der Erlösung, das sich unter den Siedlern verbreitete, war beinahe greifbar. Nun konnte man in Ruhe die Felder abernten und Vorbereitungen für den Winter treffen.
»Was denkt ihr?« Der Alte blickte fragend in die Runde. »Bleiben wir?«
Zustimmendes Kopfnicken war die Antwort. Aldo lächelte. »In Ordnung. Eine geruhsame Nacht allen.«
Leises Gemurmel