Prolog
Sie mussten sich beeilen. Schon krochen die Morgennebel durch die Schlucht, griffen mit trüben Fingern nach den hohen Tannen und zogen die Abhänge hinauf. Das Licht des neuen Tages war düster, grau, verschleiert von den Wolken, die in den Gipfeln hingen. Nicht mehr lang und die Sonnenstrahlen würden sich ihren Weg durch die geisterhaften Schwaden bahnen. Sie hofften, bis dahin hinter den schützenden Mauern der Festung zu sein.
Das durch den Nebel dringende Geräusch war schwach. Zuerst dachte Maksim, ein Rehkitz riefe nach seiner Mutter. Er zügelte sein Pferd, das so kurz vor dem heimischen Stall nur widerwillig stehen blieb.
Auch Vidar hörte es. »Was ist das?«
Maksim lauschte. Das Geräusch, ein heiseres Wimmern, kam aus dem Dickicht zu ihrer Rechten. Nein, das war kein Reh. Ohne zu zögern, sprang er zu Boden. »Ich sehe nach.«
»Nein, nicht, dass ‒«, begann Vidar.
Maksim stapfte in das Dornengebüsch und Vidar stieg leise vor sich hinfluchend ab, um ihm mit gezogenem Schwert zu folgen, ihre Reittiere und die Packpferde auf dem schlammigen Pfad zurücklassend.
Der Tau auf den Gräsern durchnässte ihre Hosenbeine. Die Zweige, die sie zur Seite schoben, knackten und Dornen rissen an ihren schweren Reiseumhängen. Das Wimmern hörte abrupt auf. Genauso unvermittelt blieben sie stehen. Im niedergetrampelten Gras einer Lichtung saß ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf Winter alt. Sein braunes Haar hing ihm in wirren Strähnen ins schmutzige Gesicht, auf dem Tränen helle Bahnen hinterlassen hatten. Sein Kleidchen aus ungefärbter Wolle war verdreckt. Das Kind kauerte neben den Leichen einer Frau und eines Mannes. Die Frau lag auf dem Rücken. Ihr Kleid war zerfetzt und ihr Hals eine einzige blutige Wunde. Die Augen starrten blicklos in den Nebel. Der Mann war seitlich ausgestreckt, sein Hals nahezu durchtrennt und die Handgelenke zerrissen. Eine Hand krallte sich in ein Reisebündel.
Maksim sog scharf die Luft ein. Die bleiche Haut und die Verletzungen zeigten überdeutlich, was diesen Menschen geschehen war.
»Tod und Teufel«, knurrte Vidar und steckte sein Schwert ein.
Maksim nickte finster und ging vor dem Kind in die Hocke. Es sah ihn aus großen blauen Augen unverwandt an. Er wollte sich nicht vorstellen, was die Kleine erlebt haben musste. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern versucht, das Qanicengebirge, das Land der Vampirstämme, zu durchqueren, um in die Städte der Menschen im Norden zu gelangen. Diejenigen, die diese Wanderung auf sich nahmen, glaubten, dass eine Reise durch die Berge bei Tageslicht leidlich sicher war und sie sich des Nachts nur gut verstecken mussten, um den Vampiren zu entgehen. Es war ein fataler Irrtum. Das Kind hatte Glück, dass es noch lebte. Vielleicht war es von seinen Eltern im Dickicht versteckt worden oder seinen Jägern eine zu magere Beute gewesen.
Er streckte die Hand aus. »Wie heißt du?«
Sie antwortete nicht. Erst als er ihr Ärmchen berührte, schluchzte sie leise und kroch ein Stück zurück.
Maksim seufzte. Sie erkannte, was er war. Wenn er sprach, konnte sie seine Fangzähne sehen. »Ich tue dir nichts. Ich heiße Maksim und das hier ist Vidar. Wie ist dein Name?«
Das Mädchen schluckte und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Dir passiert nichts«, versprach er. »Ich werde dafür sorgen, dass man die Mörder deiner Eltern bestraft.«
Vidar kniete neben den Toten nieder. »Kann sein, dass Wajaren das zu verantworten haben.« Wajaren, die Geißel der Berge, waren von den Vampirstämmen Verstoßene, die sich als Räuber, Söldner und Sklavenjäger betätigten. Maksim runzelte die Stirn. Seinen Vater, den Fürsten D’Aryun, würde es interessieren zu hören, dass sich Wajaren auf seinem Land herumtrieben. »Wir nehmen die Leichen mit zur Festung. Die Sonne geht bald auf. Wir haben nicht genug Zeit, um sie hier zu begraben.«
»Ich bringe sie zu den Pferden.« Vidar hob die tote Frau hoch und verschwand mit seiner Last im Nebel.
Das Mädchen verfolgte ihn mit den Augen, bis er nicht mehr zu sehen war.
»Wir werden dich mitnehmen«, sagte Maksim. »Du hast von uns nichts zu befürchten.«
Sie starrte ihn an.
»Wie heißt du?«, versuchte er es wieder.
Ihre Unterlippe zitterte.
Vidar kam zurück und hievte sich den Leichnam des Mannes über die Schulter.
Das Mädchen stand auf, den Blick fest auf ihren toten Vater gerichtet, und wollte ihm folgen.
Maksim erhob sich.
Sie zuckte zusammen und starrte zu ihm hoch. Er streckte ihr die Hand entgegen, dieses Mal vorsichtiger als beim ersten Versuch. »Komm. Wir reiten zusammen zur Festung. Und nehmen deine Eltern mit.«
Sie sah wieder in die Richtung, in die Vidar gegangen war. Dann ergriff sie zögernd seine Hand.
Maksim tat einen Schritt, dann noch einen. Das Mädchen folgte ihm und stolperte über Grasbüschel. Er hielt sie fest aber sanft.
Als sie am Pfad ankamen, hatte Vidar die Leichen auf den Packpferden festgeschnürt und sich auf seinen Fuchs geschwungen. »Es wird Zeit«, meinte er mit einem Blick in das Grau des Nebels, das sich zusehends zu lichten begann.
Maksim nickte und sagte zu dem Kind: »Du wirst bei mir auf dem Pferd reiten, in Ordnung?«
Sie musterte ihn und streckte ihre freie Hand, berührte sein Pferd, einen wendigen Rappen, am Bein. Das Tier senkte seinen Kopf und roch mit einem leisen Schnauben an ihrer Hand.
»Er heißt Perun«, sagte Maksim.
Das Mädchen streichelte vorsichtig Peruns weiche Nüstern.
»Willst du auf ihm reiten?«
Sie nickte scheu.
Maksim fasste sie um ihre Mitte und setzte sie in den Sattel. Dann schwang er sich hinter ihr auf den Hengst. Sie wandte sich um und sah ihn mit großen Augen an, als er einen Arm um sie legte, um sie zu halten. Perun trabte an. Vidar folgte mit den beiden Packpferden.
»Perun mag dich«, erklärte Maksim lächelnd. »Sonst würde er dich nicht auf sich reiten lassen.«
Sie drehte sich nach vorne und flüsterte etwas.
»Was hast du gesagt?«
»Ich mag Perun auch«, sagte sie mit dünnem Stimmchen.
»Das ist schön. Wenn wir auf der Festung sind, dann kannst du helfen, ihn zu füttern.«
Sie schwieg.
»Verrätst du mir jetzt deinen Namen?«
»Rodica«, sagte die Kleine leise. »Ich heiße Rodica.«
Kapitel 1
In all der Zeit, diesen dreizehn Wintern, seit sie von Maksim hierhergebracht worden war, hatte sie die Festung nicht verlassen. Nicht, dass sie den Wunsch danach verspürte. Wie alle Sklaven