Bären, Wölfe. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Ihre Eltern waren den Wajaren zum Opfer gefallen. Sie hatte nur vage Erinnerungen an sie, meinte, sich langer Wanderungen durch Wälder zu entsinnen sowie Ausblicken von felsigen Höhen über grenzenlose Ebenen, auf denen hohe grün und blau schimmernde Gräser im Wind tanzten. Und einer Nacht, in der der Regen herunterprasselte und die von Todesschreien erfüllt war.
Rodica zwängte sich zwischen zwei Zinnen der Wehrmauer, um einen besseren Blick auf die Felsen und, weit unten, den von Wäldern umgebenen See zu erhaschen. Der Mond warf ein fahles Licht auf das Wasser, das kalte Böen in Wellen ans Ufer trieben. Auf dem zur Festung führenden Weg konnte sie nichts erkennen. Er lag im Dunkel der Felsen.
Enttäuscht schob sie sich zurück. Maksim, der junge Herr, wie sie sich pflichtschuldig berichtigte, wurde heute Nacht zurückerwartet. Er war vor vier Wintern zu einem der Stämme im Osten gereist, um seine Kriegerausbildung zu vollenden, und seitdem nicht mehr auf der Festung gewesen.
Sie freute sich, ihn wiederzusehen und seine Geschichten zu hören. Schon häufig war sie mit ihm in Gedanken durch die Berge geritten, hatte Schlachten gekämpft, war als Späher unterwegs gewesen. Was er wohl jetzt zu berichten wusste?
Ungeduldig spähte sie in die Dunkelheit. Sie stand neben dem Torhaus. Rechts von ihr verlief die aus dem dunklen Stein des Gebirges erbaute Wehrmauer in einem lang gezogenen Bogen um den mit Kalksteinen gepflasterten Hof. Vier Türme überragten die anderen Gebäude und ermöglichten einen weiten Blick in die Berge. Im hinteren Teil des Hofs schmiegte sich der große Wohntrakt mit Küche, Brunnen und Waschhaus an die Mauer. Die Stallungen und Werkstätten schlossen sich an das Torhaus an. Neben den Ställen lagen die von einem niedrigen Steinwall umgebenen Gärten der Festung. Vor dem Wall befand sich der Kampfplatz der Krieger, von dem das Klirren aufeinanderprallender Schwertklingen zu ihr wehte.
Ein Pferd wieherte in der Düsternis der Felsen unter ihr. Eines seiner Artgenossen in den Stallungen antwortete ihm.
»Da sind sie!«, sagte sie aufgeregt und lehnte sich weit zwischen den Zinnen hinaus.
»Vorsicht, Mädel«, knurrte der Wachposten, ein bärbeißiger Riese mit einem zotteligen Vollbart. »Nicht, dass du runterfällst.«
»Red’ keinen Unsinn, Warin«, entgegnete sie. »Hast du das Pferd nicht gehört?«
»Gehört und gesehen.« Warin grinste. »Und jetzt ab mit dir! Sag denen unten im Hof, dass der junge Herr gleich da sein wird.«
»Jawohl, großer Wächter!«, erwiderte sie zackig. Warins Lachen hallte ihr nach, als sie die steinernen Stufen, die neben dem Torhaus in den Hof führten, hinunterlief. Eine tiefe Freundschaft verband sie, seit Rodica vor vielen Wintern zum ersten Mal die Mauern erklettert hatte.
»Maksim ist gleich da!«, verkündete sie den Kriegern und einigen Sklaven, die das Pflaster ausbesserten.
»Das heißt: Der junge Herr ist gleich da!« Emese, die mit einem leeren Korb in der Hand über den Hof geeilt kam, schüttelte den Kopf. Auf ihr faltiges Gesicht, umrahmt von lockigen grauen Haaren, legte sich ein kummervoller Ausdruck. »Warst du etwa wieder oben auf der Mauer?«
»Ich wollte nur sehen, wann Maks .... der junge Herr kommt.«
Emese seufzte. »Ist ja schon gut. Aber nicht, dass du mir noch von der Mauer fällst.«
Rodica hängte sich bei ihr ein. »Du musst dich nicht ängstigen. Mir passiert schon nichts.«
Emese hatte sie aufgezogen und machte sich ständig Sorgen, was zugegebenermaßen nicht ganz unberechtigt war. Zu gern kletterte Rodica auf Mauern, um die Aussicht von dort zu genießen, oder verkroch sich, wenn sie allein sein wollte, in den nasskalten Gängen der Verliese, in denen es nach Moder und fauligem Wasser roch.
»Du bist so ungestüm! Das wird eines Tages noch dein Tod sein!«
»Das wird es nicht. Ich ... Maksim!«
Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Fünf Krieger ritten durch das Tor in den Hof, an ihrer Spitze Maksim, der junge Herr. Schlank und kräftig mit kurz geschorenem braunen Haar und schwarzen Augen, sprang er von seinem Pferd und warf einem der Stallburschen die Zügel zu.
Eigentlich wollte sie ihm freudestrahlend entgegenlaufen. Doch eine plötzliche Befangenheit hielt sie zurück. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er, nun ja, jung gewesen. Nun waren seine Schultern breiter, die Arme kräftiger. Es gab nichts Knabenhaftes mehr an ihm. Vor ihr stand ein Mann mit dem Blick eines Kriegers, wachsam und konzentriert.
Vidar, der Schwertmeister, trat auf Maksim zu. Sie fassten sich gegenseitig an den Ellenbogen und zogen sich in eine Umarmung. »Willkommen zurück, Maksim. Es tut gut, dich zu sehen.«
»Und dich, Vidar!«
Emese, die Älteste der Sklaven, knickste. »Willkommen zurück, junger Herr.«
»Vielen Dank, Emese. Wie geht es Vazha?«
Vazha war Emeses Sohn. »Danke, gut, junger Herr. Er begleitet den Herrn zum Treffen der Stammesfürsten. Wir erwarten sie in einigen Nächten zurück.«
Maksim nickte. »Ja, Vater hat mir eine Nachricht geschickt.« Er wandte sich an die Bewohner der Festung, die sich eilig versammelt hatten. »Danke, dass ihr mich willkommen heißt. Ich freue mich, wieder unter euch zu sein.«
Die Männer und Frauen, Vampire und Menschen, murmelten einen Gruß.
Maksims Augen wanderten über sie und blieben an Rodica hängen, musterten sie eingehend. Sie fühlte Hitze in ihre Wangen steigen.
»Du bist doch nicht etwa die kleine Rodica?«
»Willkommen zurück, junger Herr.« Sie verzog das Gesicht. »So klein bin ich nicht mehr.«
»Das sehe ich.« Er lächelte sie an. »Vielen Dank für dein Willkommen, Rodica.«
Sein Blick ruhte auf ihr, bis Emese sagte: »Wir haben in der Halle eingedeckt. Und die Blutsklaven erwarten Euch.«
»Vielen Dank, Emese. Wir werden erst einmal etwas essen.« Er nickte seinen Begleitern zu und gemeinsam gingen sie in den Wohntrakt, in dessen Erdgeschoss die Halle lag. Vidar und die Krieger schlossen sich ihnen an.
Rodica starrte hinter ihm her. Sie stellte sich die absurde Frage, wie es wäre, von diesen starken Armen gehalten zu werden. Hör auf, solchen Unsinn zu denken, wies sie sich rasch zurecht und folgte ihrer Ziehmutter, um die Gartenbeete in Erwartung des Winterschnees mit Stroh abzudecken.
Kapitel 2
Es tat gut, zu Hause zu sein.
Aufatmend sank Maksim in den mit Schaffellen ausgelegten Sessel, in der Hand einen Becher mit Wein, und sah dem Spiel der Flammen im Kamin zu. Sein Gemach war mit einer Kommode und einem Tisch mit eisernen Beinen, um den sich Holzstühle gruppierten, ausgestattet. Das Bett stand an der hinteren Wand, daneben ein Waschtisch. Auf dem Steinfußboden lagen dicke Teppiche aus Wolle. Die Wände waren weiß verputzt. An ihnen hingen einige Gemälde, Ansichten der Festung, die ein künstlerisch begabter Vorfahr geschaffen hatte.
Seine Gedanken wanderten zu den Erlebnissen bei den Arrajk’ag und zu Inam, der Tochter des Stammesfürsten Zelinkan. Sie hatten sich dem körperlichen Vergnügen den ganzen Sommer hingegeben. Er war nicht ihre einzige Eroberung. Zelinkans Krieger hatten ihm von ihr berichtet und Inam gab freimütig zu, dass ihr mit nur einem Mann langweilig würde. Zelinkan, der um die Umtriebe seiner Tochter wusste, versuchte seit geraumer Zeit, ihr einen standesgemäßen Gefährten zu verschaffen, doch sie wollte keinen der Männer, die er vorschlug. »Er versteht nicht, dass ich keinen Gefährten möchte!«, hatte sie sich einmal bei Maksim beschwert.
»Bleib standhaft! Ich verstehe dich. Ich möchte auch keine Gefährtin.«
Sie hatte gelacht und gesagt »Da sind wir uns ja einig!«, bevor sich ihre Lippen um seine Männlichkeit schlossen und er dieses Thema sehr schnell vergaß.
Ja,