Annemarie Singer

Kopfstand


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doch neben meinem vollgepackten Freizeitprogramm auch einen ziemlich intensiven Job zu erledigen. Und trotz all der Lebendigkeit, die ich dabei verspürte, muss ich zugeben, so wirklich glücklich und zufrieden war ich trotzdem nicht. Jede Aktivität, und war sie noch so aufregend und spannend, war nur eine kurzfristige Abwechslung.

      Die Situation in der Arbeit war irgendwie umgeschwenkt. Was ich früher noch eher belustigt sah, wurde immer tragischer und das wirkte sich auf meine Arbeitsmotivation aus. Ich sah keinen Sinn mehr in all dem, was ich tat. Mein ganzes Engagement verlief irgendwo auf dem Weg von meinem Schreibtisch nach Italien und wieder zurück im Sand. Nur der Humor meiner Kollegin machte es einigermaßen erträglich. Sie hatte beispielsweise beschlossen, Emails, die von der Geschäftsführung kamen und länger als fünf Zeilen waren, ungelesen zu löschen. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Ich fragte: „Carola, hast du gelesen, was da wieder für ein Unsinn gekommen ist?“ und sie antwortet: „Nein, ist meiner Grundsatzverordnung Nr. 3 zum Opfer gefallen.“ „Und wie lautet diese Verordnung?“. „Lass dich durch Labersäcke und Vorgesetzte mit Profilneurose nicht von deinen eigentlichen Aufgaben ablenken.“ „Und deshalb löschst du Emails ungelesen?“ „Willst du nicht unter die Räder kommen, darfst du dem Wahnsinn nicht mit Logik oder gesundem Menschenverstand begegnen. Da bist du auf aussichtslosem Posten. Also immer schön auf der gleichen Welle reiten.“ Ich musste zugeben: „Wo du recht hast, hast du recht.“ Während ich immer wieder aufs Neue damit konfrontiert war, mit dem ganz normalen Wahnsinn umzugehen, zeichnete sich so nach und nach eine Änderung in der Geschäftsführung ab. Bisher gab es aber nur Gerüchte, etwas Genaueres wusste niemand.

      Johanna - Status Quo

      Und damit sind wir wieder am Anfang dieser Geschichte angelangt. Ich sitze am Schreibtisch und weiß nicht wo und wie es weiter gehen soll. Ihr wisst jetzt schon viel über mich und es wäre spannend zu hören, was ihr denkt. Bin ich einfach nur eine Eselin, die aufs Eis geht, weil es ihr zu gut geht? Oder was steht wirklich hinter meiner Unzufriedenheit?

      Während ich das alles erzähle, begleitet mich der ständige Gedanke, dass mein ganzes Denken und Handeln darauf ausgerichtet ist, anderen zu gefallen. Das wäre soweit ganz in Ordnung, jeder will schließlich gemocht werden und toll sein. Doch es könnte sein, dass ich dabei vergessen habe, mich hin und wieder zu fragen, ob ich mich denn selber mag. Und da wird es ziemlich kompliziert in meinem Kopf. Ist es „nur“ mein Wunsch nach Anerkennung? Welche Dinge finde ich überhaupt anerkennenswert? Und wie weit stimmt mein Selbstbild damit überein? Es ist keine sehr schmeichelhafte Erkenntnis, dass ich mich seit Jahren um das gleiche Thema drehe. Es hat einerseits den Beigeschmack von großem Drama, Selbstzerfleischung oder gar „Fishing for Compliments", je nachdem aus welcher Warte man das betrachtet. Andererseits ist es mir sehr ernst damit. Ich bin mir oft selbst nicht genug und weiß nicht, ob meine freundliche Fassade echt ist oder nur dem verzweifelten Versuch geschuldet ist, gemocht und angenommen zu werden. Wie macht man das? Herausfinden, wer man selber ist und sich dann auch selbst treu zu sein?

      Johanna - WG gesucht?

      Dusan wird in sechs Wochen ausziehen und ich muss mich um einen Nachmieter kümmern. Ich brauche das Geld und außerdem ist es schön, jemanden im Haus zu haben. Mit Dusan klappt das wunderbar. Manchmal sehen wir uns für ein paar Tage überhaupt nicht, an anderen Tagen kochen wir zusammen oder plaudern ein bisschen über das Leben. Er ist nicht ganz glücklich als Gitarrenlehrer und jammert manchmal, wenn er sich erst den Liebeskummer seiner pubertierenden Schülerinnen anhören muss, bevor es mit dem Unterricht losgehen kann. Aber irgendwo muss die Kohle herkommen. Wie schon bei meiner ersten Vermietung versuche ich mein Glück im Internet und schreibe dieses Mal zwei Kandidaten an. Einmal eine Frau in den Dreißigern, die sich selbst als unkonventionell beschreibt und gerne bastelt. Das andere ist ein Mann, der hier einen Job im sozialen Bereich in Aussicht hat und nur vorübergehend eine Bleibe sucht. Für den Fall, dass ihm die Arbeit gefiele, würde seine Frau nachkommen und dann nähmen sie sich eine gemeinsame Wohnung. Das hört sich wieder nach einem guten Arrangement an und das käme mir im Grunde meines Herzens auch sehr entgegen. Ich habe Angst, dass jemand, der unbefristet bei mir wohnt, sich auch entsprechend ausbreiten würde. Sie antworten beide, dass sie Interesse haben. Sabine kommt Freitag zur Besichtigung, Tom Sonntagnachmittag, und ich bin schon neugierig, wie sie in Natura sein werden.

      Sabine scheidet auf den ersten Blick aus. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass bei dieser Selbstdarstellung die Gefahr sehr groß ist, dass eine esoterische Handarbeitslehrerin kommt. Pseudoliberal mit klaren Regeln, wie lange die Musik am Abend laufen darf. Sie kritisiert mein schönes Haus, das Zimmer ist zu klein, das Bad zu groß und in meinem Garten möchte sie sich verwirklichen. Ich bin sehr freundlich und sehr froh, als sie zur Tür raus ist. Aber was habe ich mir da wieder eingebrockt? Warum habe ich ihr das nicht gleich gesagt? Unangenehme Nachrichten zu überbringen, ist einfach nicht meine Stärke, vollkommen egal, ob ich mein Gegenüber kenne oder nicht. Ich warte meinen zweiten Besichtigungstermin ab. Tom kommt in Begleitung seiner Frau und die zwei sind mir auf Anhieb sympathisch. Es gibt Menschen, die sieht man zum ersten Mal und ist sofort im Gespräch. Da muss nicht erst abgetastet und langsam hingeführt werden, es passt einfach. Wir sind uns einig. Tom will noch seinen Arbeitsvertrag abwarten und dann würde er gerne bei mir fix zusagen. Ich fasse mir ein Herz und schreibe Sabine, dass ich glaube, dass wir nicht so gut harmonieren würden und bin sehr stolz auf mich, dass ich mir keine Ausrede hab einfallen lassen, sondern einfach schreibe, na ja, zumindest fast, was Sache ist. Ist gar nicht so schwer.

      Mutter - Verlust

      Das Leben bietet so viele wunderbare Dinge, die man tun und erleben kann. Meine Tochter ist schlichtweg unglaublich. Wer hätte das gedacht? Es ist, als hätte sich eine Schleuse geöffnet und die viele Jahre unterdrückte oder vielleicht auch nur fehl geleitete Kreativität sprudelt ungebremst aus ihr heraus. Sie ist nicht mehr aufzuhalten.

      Ich komme nicht umhin anzuerkennen, dass dieser Italiener etwas damit zu tun hat. Er war das Feuer, mit dem sie gespielt hat, und an dem sie sich gehörig die Finger verbrannt hat. Trotz der Verletzungen, die er ihr zugefügt hat, kann sie es immer noch nicht lassen, in der Glut zu stochern. Sie hat noch nicht genug von dieser wilden ungezügelten Kraft. Im Grunde müsste sie erkennen, dass er lediglich der nötige Funke war, den es gebraucht hat, um ihr eigenes Feuer zu entfachen.

      Es ist schön zu sehen, was durch ihre Hände alles entsteht und ich hoffe sehr, dass sie diesen Weg weitergeht. Sie sucht auf allen Ebenen nach Möglichkeiten, sich auszudrücken. Es ist ihr Weg aus der Sprachlosigkeit. Wie ich und auch ihre Großmutter bleibt sie in den wichtigen Momenten ihres Lebens stumm. Und wer weiß, wie weit diese Ahnenkette noch zurückgeht. Es ist ein schweres Vermächtnis, das sie da zu tragen hat.

      Ich war vierzehn Jahre alt, als mein älterer Bruder an einer Blinddarmentzündung starb. Man hatte die Ursache seiner Bauchschmerzen zu spät erkannt und als man ihn endlich in ein Krankenhaus gebracht hatte, war es zu spät. Er war einfach weg, von einem Tag auf den anderen. Niemand hatte mich je gefragt, wie es mir damit geht. Hätte ich meinen Vater darauf angesprochen, so wäre seine Antwort gewesen: „Vom Reden kommt er auch nicht wieder zurück. Man muss das Leben nehmen, wie es kommt.“ Aber ich war traurig und vor allem war ich wütend, weil er mich alleine gelassen hatte.

      Johanna war elf Jahre alt als ihr Bruder tödlich verunglückte. Er war der ältere meiner beiden Söhne. Von Geburt an eine Frohnatur, ein fröhlicher Junge, bei dem man nicht anders konnte, als ihn gern zu haben. Das galt nicht nur für seine Familie. Er war bei Gleichaltrigen genauso beliebt wie bei Verwandten, Nachbarn oder Lehrern. Nicht, weil er ein liebenswürdiger, hilfsbereiter Junge war, sondern weil er auf eine unwiderstehlich freche Art das sagte, was er gerade dachte und auch immer das tat, auf was er Lust hatte. Das scheint für einen 16-jährigen Teenager nicht so außergewöhnlich, doch bei ihm hatte es nichts Trotziges, sondern eine angeborene Natürlichkeit. Er hatte einen Verkehrsunfall mit seinem Moped. War zu schnell gefahren, kam auf die andere Straßenseite und fuhr frontal in einen entgegenkommenden LKW. Johanna und ich saßen am Küchentisch, als die zweite meiner Töchter nach Hause kam. Ich sagte noch zu Johanna, wie ungewöhnlich es sei, dass sie vor ihrem Bruder da ist. Da kam sie in die Küche geschossen, kreidebleich im Gesicht. Sie hatte den Unfall ihres Bruders, ungefähr