wahr sein könnte. Die Reaktion meines Sohnes war ähnlich pragmatisch. Er meinte, er hätte sich diese Frage auch schon öfter gestellt, also in Bezug auf seinen Vater. Die konnte ich ihm nun persönlich beantworten und bestätigen, was mir mit meinen Eltern leider nicht mehr möglich war. Mein Sohn führte das Ergebnis der Familienaufstellung auf meine fehlende Bindung zu meinem Vater zurück. Es war sehr interessant, die Einstellung meiner Kinder dazu zu hören und ohne Gefühlsduselei mit ihnen darüber zu sprechen. Aber das war noch nicht ausreichend, ich brauchte noch mehr Meinungen und Sichtweisen dazu. Irgendwie wollte ich, dass es die Wahrheit sei, weil es mir vieles leichter machte. Es tut immer gut, wenn man etwas oder jemandem die Schuld oder Verantwortung für Dinge geben kann, die im Leben nicht gut laufen. Doch es gab auch jede Menge Zweifel in mir und deshalb lud ich vier Freunde zum Abendessen ein und erzählte die Geschichte. Ich war in einer seltsamen Stimmung. Sie dachten, sie kämen einfach zu einem netten Abendessen, doch ich fühlte diese Erregung in mir, die man verspürt, wenn man eine Sensation zu verkünden hat. Der Widerhall auf das Gehörte war aber nicht wie nach einer tollen Freudenbotschaft, sondern meine Freunde zeigten mir mit ihren Fragen meine eigenen Zweifel auf. Das war irgendwie enttäuschend. Sie brachten mich zurück auf den Boden der Tatsachen und das bedeutete, dass es zu viele Ungewissheiten gab. Wollte ich tatsächlich Bescheid wissen, würde ich um einen DNA Test mit meinen Geschwistern nicht herum kommen. Damit ließ ich das Thema zunächst auf sich beruhen.
Mutter - Bekenntnis
Das ist doch nicht zu glauben! Wäre ich nicht schon gestorben, ich würde vor Scham tot umfallen. Nach so vielen Jahren des Verdrängens werde ich konfrontiert mit dieser entsetzlichen Geschichte, mit den Abgründen meines Lebens. Ich würde so gerne sagen: „Das ist doch alles Humbug, alles erstunken und erlogen. Die schrecklichen Fantasien ein paar unglücklicher Frauen, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen.“ Und doch muss ich eingestehen, dass ich durchaus weiß, um was es hierbei geht. Ich kenne die Ursache. Das alles ist schon sehr lange her und ich wiegte mich in absoluter Sicherheit, dass die Wahrheit niemals mehr ans Licht kommen würde. Zumal sich die Katastrophe, die mir da passiert ist, als großes Geschenk und Glück für mich entpuppt hat. Dass diese Geschichte solche Auswirkungen auf Johannas Entwicklung und ihr ganzes Leben haben würde, hatte ich nie bedacht.
Heute kennt man das nicht mehr. Aber als ich eine junge Frau war, wurde Familie noch groß geschrieben. Man traf sich an Sonntagen mit der Verwandtschaft, auch mit jener zweiten und dritten Grades. Für die Geschichte ist das letztendlich vollkommen unerheblich, aber wenn ich daran denke, dann schwelge ich in Erinnerungen und bin versetzt in eine vollkommen andere Zeit.
Meine Base Sophia (unsere Mütter waren Cousinen) war etwas jünger als ich und in meinen Augen schon immer ganz besonders. Sie war anders. Ich wuchs auf dem Land auf und sie lebte mit ihren Eltern in der Stadt. Sie sprach anders als wir Bauernkinder, war selbstbewusst und trug immer Kleider nach der neuesten Mode. Je älter wir wurden, umso mehr fiel mir der Unterschied zwischen uns auf. Ich bewunderte sie und gleichzeitig war ich furchtbar neidisch. Es schien mir damals, als würden wir in zwei verschiedenen Welten leben. Und selbstredend war sie später mit einem sensationellen Mann verheiratet. Sie hatte ihn in dem Schreibbüro kennen gelernt, für das sie arbeitete. Rainer war einfach umwerfend. Gutaussehend und charmant. Sie unternahmen damals viele Reisen, erst innerhalb Deutschlands und dann später auch ins Ausland. Über unsere Eltern war ich immer auf dem Laufenden, was sich in ihrem Leben tat. Sie selbst traf ich nach vielen Jahren erstmals zu einem Geburtstag meines Vaters wieder. Wir hatten uns beide verändert, sie war älter geworden und lange nicht mehr so schillernd wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich war nicht mehr das junge unsichere Mädchen, sondern eine erwachsene Frau.
Das Leben hatte mir bis dahin schon einige Prüfungen abverlangt. Ich hatte gute Zeiten und schlechte Zeiten erlebt und dabei gelernt, dass nichts von Dauer ist, nicht das Glück und nicht das Leid. Meine Jugend in Kriegszeiten war verglichen mit anderen Schicksalen ohne Zweifel nicht die schlechteste. Meine Brüder waren zu jung für den Krieg und mein Vater hatte von jeher politische Aufgaben im Dorf, weshalb er auch nicht als Soldat ins Feld ziehen musste. Viele Nachbarsfrauen wussten nicht, wie es ihren Männern und Söhnen ging. Jeden Tag hofften sie auf ein Lebenszeichen von ihnen und gleichzeitig fürchteten sie sich, schlechte Nachrichten zu erhalten. Es war schlimm genug, dies mit etwas Abstand zu erleben. Meine eigene Familie blieb verschont. Wir mussten nicht hungern, auch wenn Essen rationiert und Lebensmittel knapp waren. Vieles musste heimlich passieren. Soldaten und fremde Menschen kamen auf den Hof und die Angst und das Leid war überall gegenwärtig. Ich will hier keine Kriegsgeschichten aufwärmen oder gar die Umstände als Rechtfertigung benutzen für Dinge in meinem Leben, die ich bedaure getan oder auch nicht getan zu haben. Die Erlebnisse dieser Zeit waren sehr prägend. Sie sind ein Teil meiner Generation und damit ein Teil von mir, aber sie als Ausrede zu benutzen, wäre definitiv zu einfach.
Meinen Mann habe ich nach Kriegsende beim Tanz kennen gelernt. Er liebte es zu feiern und zu lachen. Von seinen Kriegserlebnissen, seiner Verwundung durch den Splitter einer Granate und den schrecklichen Bildern, die er im Kopf gehabt haben musste, sprach er kaum. Wir verliebten uns ineinander und wollten heiraten. Doch sein Vater erlaubte es nicht. Er sagte, erst müsse die ältere Schwester meines Mannes verheiratet werden, bevor in den Hof eingeheiratet werden konnte. Mein Mann war der älteste Sohn und deshalb der Hoferbe. Mangels passender Männer und seiner nicht so gut vermittelbaren Schwester dauerte es einige Jahre bis es endlich soweit war und ich die Bäuerin auf einem Hof wurde mit einem sehr schwierigen und dominanten Schwiegervater im Haus. Es gab viel Arbeit, doch das hätte mich nicht so sehr gestört. Schlimmer waren die Launen meines Schwiegervaters. Ich musste mich oft fügen und fürchtete mich vor seinen Wutausbrüchen. Und so, wie ich die Widrigkeiten ertragen hatte, die der Krieg mit sich gebracht hatte, so erduldete ich die Umstände, die meine Ehe mit sich brachten. Mir blieb nichts anderes übrig, als es zu ertragen. So war mein Leben eben.
Als ich Sophie wieder traf, war mein Schwiegervater längst verstorben. Ich war Mutter von vier Kindern, hatte eine Totgeburt erlebt und zuschauen müssen, wie mein Mann auf vielen Festen anderen Frauen schöne Augen machte. Es ist müßig, hier über Gründe, Schuld oder Verantwortung zu sprechen. Da kann sich jeder seine eigene Version dazu ausdenken. Tatsache ist, ich hatte mich um eine Familie zu kümmern und um Haus und Hof. Die Frage nach Glück stellte sich nicht.
Das war der Stand der Dinge, als ich zum ersten Mal beobachtete, dass auch im Leben meiner Base nicht alles so rosig war, wie ich das immer meinte. Irgendetwas stimmte in dieser Ehe nicht, sie sprachen kaum ein Wort miteinander.
Rainer war immer noch der gleiche charismatische Mann, den ich in Erinnerung hatte. Auf seine ganz eigene, ruhige Art freundlich und zuvorkommend. Er fragte mich „Wie geht es dir?“ und war nicht zufrieden mit einem „gut“. Er meinte wirklich mich, zeigte Interesse an mir und meinem Leben. Ich muss nicht beschreiben, was das in mir auslöste. Seltsamerweise trafen wir uns plötzlich, nachdem wir jahrelang überhaupt keinen Kontakt gehabt hatten, sehr regelmäßig. Im Kreis der Familie versteht sich. Ich genoss seine Aufmerksamkeit und ihm schmeichelten meine bewundernden Blicke und Komplimente. Und dann kam das Sommerfest. Rainer war alleine gekommen, weil eines der Kinder krank war und Sophie deshalb zu Hause geblieben war. Ich war in einer seltsamen Stimmung und fühlte mich nicht recht wohl unter den schon angetrunkenen, lauten Menschen. Machte ich mir etwas vor, als ich sagte, dass ich heim möchte? Mein Mann wollte noch bleiben und Rainer bot an: „Ich werde auch bald gehen, dann kann ich dich nach Hause bringen.“ Es war nur ein einziges Mal und ich bereue es nicht. Mein Entsetzen hingegen war endlos, als ich feststellte, dass ich schwanger war. Kurzum ich wusste nicht, wer der Vater ist und das war schier undenkbar.
Johanna - der neue Alltag
In der Firma waren einige Änderungen vorgenommen worden. Ich hatte mich bereit erklärt, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, was noch mehr Termine außerhalb des Büros bedeutete. Im Gegenzug wurde mir dafür eine Mitarbeiterin zur Verfügung gestellt, mit der ich die Arbeit aufteilen sollte. Ich hatte eine neue Kollegin bekommen und das fand ich super. In meinem Büro stand noch ein freier Schreibtisch, den mein Chef bisher nutzte, wenn er nach Deutschland kam. Diesen Platz belegte jetzt Carola. Sie war eine große Entlastung für mich. Nicht so sehr arbeitstechnisch. Es war einfach schön, jemanden an der Seite zu haben,