Annemarie Singer

Kopfstand


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begegnete und die einen für diese Umgebung vollkommen bodenständigen Eindruck auf mich machte. Sie hieß Paula. Ich erklärte ihr, wie ich hier her gekommen war. Und auch, dass ich gar nicht wüsste, wo ich denn hier gelandet war, was das hier eigentlich sei und wie das alles zusammenhänge. Sie lachte und versicherte mir, dass sie meine Verwirrung durchaus verstehen könne.

      Ich war in einem Wohnprojekt gelandet. In dem Haus lebten 19 Menschen in 12 Zimmern, jeweils mit eigenem Bad. Die Räume im Erdgeschoss, also Küche, Toiletten, Abstellkammern und natürlich der Säulensaal waren alles Gemeinschaftsräume. Sie führte mich durch das Haus und zeigte mir auch ihre Räumlichkeiten unterm Dach. Es war sehr schön eingerichtet und vor allem sehr ordentlich aufgeräumt. Ich staunte, dass man seine Besitztümer auf so kleinem Raum unterbringen kann und dabei nicht das Gefühl hat in einer Abstellkammer zu wohnen. Ob ich das auch könnte? Ich verteile meine Sachen momentan auf drei Stockwerke! Da könnte es durchaus eng werden, wollte ich in so ein Zimmer übersiedeln.

      Die Leute der Wohngemeinschaft hatten alle sehr unterschiedliche Geschichten und Motivationen, warum sie hier lebten. Der Seebär, zum Beispiel, war ein verarmter Adliger und alles was ihm geblieben war, waren die drei Flügel, die ich in der großen Halle gesehen hatte. Paula hatte sich vor kurzem als Fotografin selbstständig gemacht und war zum einen aus Kostengründen hier gelandet, zum anderen fand sie das Leben in der Gemeinschaft eine spannende Erfahrung. Auch, wie sie sagte, wenn es oft anstrengend war und die Regeln nicht eingehalten wurden. Ihre Mitbewohner lebten oft in den Tag hinein und taten was sie wollten. Ich musste schmunzeln, weil ich an meinen Eintritt durch den Seiteneingang dachte. Da hatte ich wohl ganz unbewusst die Hausregel Nummer 1 übernommen. Die Küchenbenutzung und vor allem das Saubermachen würden überhaupt nicht funktionieren. Und ja, da gab es dann trotz all dem Gerede über Toleranz und Liebe und Offenheit ziemlich oft Streit.

      „Ich würde mich echt freuen, wenn wir in Kontakt bleiben. Und vielleicht hast du ja Lust hier auch mitzumachen.“ Ohne Zweifel sind mir genau solche Gedanken durch den Kopf geschwirrt. Ich fragte sie noch nach Ariana und ob sie etwas über deren Verbleib wüsste. Nein, da habe sie keine Ahnung. Die Organisation aller Veranstaltungen lag bei Heribert, dem Mann, der zu Anfang gesprochen hatte und so eine Art Hausvorstand war. Es war auf alle Fälle spannend, einen Einblick in ein Gemeinschafts-Wohnprojekt bekommen zu haben. Vor allem von jemandem, der durchaus in der Lage war, verschiedene Aspekte zu sehen und auch relativ neutral die Vor- und Nachteile abwägen konnte. Paula war jedenfalls eine Supernette und warum sollte so eine Wohnkonstellation nicht auch für mich in Frage kommen? Wieder zurück im Säulensaal bekam ich dann gleich eine Kostprobe in Sachen „hier tut jeder was er will“. Das Konzert ging nicht mehr weiter, weil Petra, die Obertonsängerin, und übrigens die Frau mit dem türkisfarbenen Friseurumhang, der hier zum Abendkleid umfunktioniert worden war, sich nicht in Stimmung fühlte und lieber zu einem Vortrag im Nachbarort fuhr. Ich war belustigt und das, was ich an diesem Abend schon alles gesehen und gehört hatte, war das Eintrittsgeld von 10 Euro, die ich bis jetzt nicht mal bezahlt hatte, allemal wert. Paula hatte noch etwas vor und machte sich auf den Weg. Sie gab mir ihre Telefonnummer und verabschiedete sich.

      Es waren nur noch ein paar Leute da und ich wusste nicht so recht, wohin mit mir. Ich wäre gerne noch da geblieben an diesem seltsam aufregenden Ort, mitten in der bayerischen Pampa. Aber nachdem sich hier alles aufzulösen schien und ich nicht unschlüssig rumstehen wollte, ging ich und suchte nach dem Körbchen, in das ich das Eintrittsgeld legen sollte. Auf einem Stehtisch vor der Küche lag eine Liste, beziehungsweise das, was eine Liste hätte werden sollen. Ein Blatt Papier auf dem sich die Konzertbesucher eintragen sollten. Es stand nur ein Name auf der Liste und in dem Bastkorb daneben lag eine einzelne Euromünze. War ja klar. Ich liebe die Atmosphäre, die diese Leute verbreiten, den Spirit des Freigeistes. Doch warum musste das so oft einhergehen mit Geldknappheit und vor allem Verantwortungslosigkeit, Unzuverlässigkeit und Respektlosigkeit. Da fallen mir eine ganze Reihe von Eigenschaften ein, die leider sehr oft bei Künstlern und spirituell Suchenden zu finden sind. Diese Untugenden werden dann gerechtfertigt mit Kreativität und Freiheit. Zu guter Letzt muss meist auch noch die bedingungslose Liebe als Ausrede herhalten. Ich bekomme auch gerne etwas geschenkt, aber bitte freiwillig und nicht, weil ich es mir leicht ergaunern kann. Deshalb schrieb ich brav meinen Namen auf die Liste, legte mein Eintrittsgeld in den Korb und kam mir nur ein kleines bisschen wie eine konservative Spießerin vor. Denn ich muss einräumen, dass ich durchaus den Gedanken im Kopf hatte: „Hoffentlich kommt das Geld auch da an, wo es hin soll!“ Das Konzert war wunderschön gewesen und ich hoffte, dass die Musiker nicht nur mit meinen 10 Euro heimgehen mussten.

      Johanna - on fire

      Ich wollte nochmal in den Saal zurückgehen und schauen, ob sich vielleicht nicht doch eine Gelegenheit bot mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Dabei lief mir der schöne Jesus wieder über den Weg. Mir gefallen eigentlich die etwas kräftigeren Männer. Der hier war einer von der dünnen Sorte. Nicht klapperdürr, sondern wie ein Langstreckenläufer. Er stellte sich mir als Igor vor. Ich konnte nicht sagen, woher er kam, aber er war auf keinen Fall ein Deutscher. Bei der Begegnung vor dem Haus dachte ich, er sei Franzose, aber als er jetzt sprach und auch immer wieder ins Englische wechselte, hörte sich sein Akzent nicht französisch an. Wir unterhielten uns über das Konzert und auf Nachfrage erfuhr ich, dass er Pole war, lange in Frankreich gelebt hatte und hier in der Nachbarschaft lebte. Er arbeitete irgendetwas mit Holz. Er sprach über Skulpturen und eine Schreinerwerkstatt, aber ich verstand nicht so recht, was er wirklich machte. Was ich sehr wohl verstand, war, dass er mir anbot, mir seine Arbeiten bei sich zu Hause zu zeigen. Künstler? Aufreißer? Oder beides? Wie immer, wenn mein Herz spontan ja sagt und gleichzeitig mein Kopf anfängt tausend Gegenargumente auf einmal zu produzieren, sagte ich gar nichts dazu.

      Kennt ihr Ally McBeal, die amerikanische Serie? Ally hat einen Kollegen, der in solchen Momenten den Kopf in den Nacken legt, seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger nimmt und sagt „Ich bin verwirrt und muss kurz innehalten“. Ich konnte das so gut nachvollziehen. Mir ging es ähnlich und es wäre hilfreich in solchen Momenten, die Zeit kurz stillstehen zu lassen. Der emotionalen Aufregung einen Namen geben und sie etwas abklingen lassen, in der Zwischenzeit kann sich der Kopf beruhigen und man ist wieder handlungsfähig. Ich sollte mir diese Marotte wirklich angewöhnen! Es musste nicht dramatisch wirken, ein einfaches „damit bin ich gerade überfordert“, würde schon ein Anfang sein. Aber noch blieb ich in solchen Situationen stumm und versuchte, ein verbindliches Gesicht zu machen.

      Während ich mich also bemühte, mir meine Verwirrung nicht anmerken und meinem Gegenüber auch nicht wissen zu lassen, was gerade für ein Film bei mir ablief, war der Seebär hinter mir aufgetaucht. Genialer Zeitpunkt! Igor wollte wissen, ob wir uns schon kennen gelernt hätten, stellte ihn als Anjou vor und fragte den auch gleich noch, ob er nicht eine Flasche Wein für uns hätte. Wieder kam meine konservative Seite zum Einsatz, die dachte: „Klar, kein Geld, um die Musiker zu bezahlen, aber Alkohol ist immer da.“ Vollkommen wertfrei, versteht sich!

      So war das an dem Abend. Die nächsten paar Stunden waren nicht spannend. Wir, also Igor und ich, saßen zusammen mit ein paar Leuten aus der Gemeinschaft, man unterhielt sich und zwischendurch spielte Anjou auf einem der Flügel. Etwas später kamen auch die Musiker zu unserer kleinen Runde. Ich war aus dem Gespräch ausgestiegen. Mein Kopf fühlte sich wie ein Ameisenhaufen an. Tausende Gedanken, von denen scheinbar kein einziger zielgerichtet irgendwo ankam und doch kreisten sie alle um einen Mittelpunkt. Dieser Mann strahlte eine Energie aus, die mich in eine Luftblase packte. Alles, was um mich herum passierte, war wie durch eine unsichtbare Schicht von mir abgetrennt. Ganz klarer Fall, meine Hormone spielten verrückt! Ich war verunsichert und nachdem ich sowieso nichts mehr von der Unterhaltung mitbekam, entschied ich, den Rückzug anzutreten. Sehr raffiniert, denn das brachte wieder Bewegung in meine Umlaufbahn. Ich stand auf und wünschte einen schönen Abend in die Runde. Igor folgte mir und ich wollte mich mit einer Umarmung verabschieden. Doch daraus wurde nichts. Wie selbstverständlich nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände und ich wurde geküsst wie (Tatsache!) noch nie in meinem Leben zuvor. Ich schmolz dahin. Er hatte es raus! Ich kann ihn immer noch schmecken! Es war nicht nur, dass sein Mund und seine Zunge sanft und trotzdem voller Leidenschaft den meinen berührten und streichelten. Eine Hand lag ganz zart auf meiner unteren Gesichtshälfte. Sie schenkte mir Geborgenheit, schützte und hielt mich, während