Klaus Schröder

Fahnen,Flammen, Fanatismus


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nach 13 Stunden Fahrt war Passau erreicht und alle sanken todmüde auf ihr Lager in der Jugendherberge.

      Marie tuschelte noch ein wenig mit ihrer Freundin, bevor auch sie in das Land der Träume hinüberglitt. Sie war ein lebenslustiges Mädchen von gerade 16 ½ Jahren und wuchs unbeschwert aber behütet in einem harmonischen Elternhaus auf. Ihr Vater, ein gelernter Böttcher, war inzwischen Polizeianwärter und die Familie wohnte im Gärtnerhaus eines reichen Weinhändlers, der selten in seiner großen Villa wohnte. Marie war Pauls Liebling und er tat alles in seiner Macht, um sie glücklich zu machen. Jetzt schlief sie fest und träumte von den kommenden Abenteuern.

      Schon sechs Uhr am Morgen musste man aufstehen und eine müde Truppe trabte zum Kaffee beim Stockbauer. Das Frühstück war einfach, aber der Blick auf die Donau und das heiße Getränk hoben die Stimmung. Die konnte auch durch den Dauerregen nicht getrübt werden und alle redeten durcheinander. Wie junge Mädchen eben so sind.

      In Gmunden schien die halbe Stadt auf den Beinen zu sein. Der Bahnhof glich einem Heerlager. Wie eine Schlange bewegte sich ein Wimpel und Standarten schwenkender Zug deutscher Jugendlicher und Erwachsener auf die Stadt zu. Von 14 Jahren aufwärts waren sie aus allen deutschen Sprachgebieten, aus Südtirol, aus dem Baltikum, aus Siebenbürgen, dem Banat, aus dem besetzten Saarland und allen deutschen Landen angereist. Sie wurden in Privathäusern und Scheunen untergebracht. Marie und ihre Schulfreunde kamen in die Büroräume eines Fabrikanten. Dort war es warm und sie hatten einen herrlichen Ausblick auf den See und Schloss Orth. Erschöpft sanken sie in die Betten.

      Am nächsten Tag wurde die Stadt erkundet. Fast jedes Haus war mit Reisiggirlanden und reichsdeutschen und österreichischen Fahnen geschmückt. Im Laufe des Vormittags fanden Gottesdienste und verschiedene Sitzungen statt. Am Mittagstisch saßen Marie und ihre Freundinnen dann mit bayerischen „Buam“ zusammen, aber von ihren Reden verstanden sie nicht viel. Trotzdem wurde jede Menge gelacht und geschäkert.

      Als sie nach dem Essen so ganz ohne Plan auf dem Markt herumstanden, kam der Direktor, bei dem sie logierten, vorbei und lud sie zu einer Spazierfahrt in die Umgebung ein. Das Auto war ein Sechssitzer, aber alle 11 Mädels wurden eingeladen. Das war ein Gaudi. Sie erregten überall Aufsehen. Sie fuhren durch die schneebedeckte Alpenwelt, tief unten die Traun, zu der Stelle, wo sich der Fluss mit ungeheurem Getöse in die Tiefe stürzt.

      Gerade rechtzeitig kamen sie zu der Sieben-Uhr-Abendfeier zurecht, die für die Sachsen auf dem Moosberg stattfand. Die Feierstunde wurde eingeleitet von dem Choral:

       „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten. Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er lässt von den Schlechten nicht die Guten knechten; Sein Name sei gelobt er vergisst unser nicht.“

      Der Vorstand bedankte sich für die Einladung und danach sprach ein Wiener. Unter großem Applaus bat er darum, dass die Österreicher wieder zum deutschen Mutterland gehören dürften. Er erinnerte daran, dass in Südtirol, in dem seit dem Weltkrieg von Italien okkupierten Teil, seit einem halben Jahr die deutsche Sprache in Schulen und auf Schildern verboten sei. Es folgten Ansprachen von Herren aus Litauen, dem Elsass und Westpreußen, die Not und Elend der Deutschen in den Grenzstaaten hervorhoben. Dazwischen sang und tanzte eine Zipfer Gruppe zur Violine. Die Flammen eines großen Holzstapels loderten zum Himmel. Zum Abschluss wurde gemeinsam das Deutschlandlied gesungen.

      Die Berge ringsum waren stimmungsvoll beleuchtet und allen war sehr feierlich zumute. Das Trauntor zeigte ein beleuchtetes Monogramm mit den Buchstaben VDA, Scheinwerfer ließen das Schloss erstrahlen und auf dem See fuhren bunt illuminierte Boote.

      Der nächste Morgen weckte die Mädchen mit Sonnenstrahlen und als man sich noch im Bett räkelte, klopfte das Hausmädchen an die Tür. „Herr Doktor lässt fragen, ob Sie fertig seien.“

      Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Liesel und Käthe hatten mit ihrem Bubikopf wenig Probleme, aber Maries lange Haare zeigten sich widerspenstig. Doch dann waren alle Punkt 8 Uhr aufbruchbereit. Der Tag begann mit einer Morgenfeier der 15 000 Teilnehmer auf der Satoriwiese. Ein im Wald versteckter Chor sang einen Choral als Einleitung für die Rede eines greisen Priors aus Innsbruck. Der katholische Priester sprach von Pflichten, die die Jugend gegenüber Herrgott, Heimat und Volk habe, danach sprach ein evangelischer Bischof aus Siebenbürgen. Er beschwor die Teilnehmer, Träger des Einheitsgedankens zu sein. Zum Abschluss sangen alle

       „Großer Gott wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.“

      Und natürlich das Deutschlandlied.

      Am Nachmittag bewunderten alle einen Festumzug. Die Südtiroler trugen eine Tafel mit Trauerflor. Plötzlich ein Böllerschuss. Alles stand still und Musikkapellen spielten „Ich hatt' einen Kameraden…“ von Ludwig Uhland. Dann begannen sämtliche Glocken in Gmunden zu läuten und jeder nahm seine Kopfbedeckung ab. Nach einem erneuten Böllerschuss setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

      Als weiterer Programmpunkt fand ein Singwettstreit auf dem Hochkogel statt. Dabei lernten Marie und ihre Freundinnen eine lustige Wiener Gruppe kennen und man verabredete sich für den Abend. Beim Seefeuerwerk traf man sich wieder, und während die anderen am Fackelzug teilnahmen zogen sich drei Mädel und fünf Wiener an den Waldrand zurück. Sie sangen „Weaner Liadln“, die zuerst lustige Stimmung verbreiteten aber dann immer schwermütiger wurden. Die Unterhaltung drehte sich um Volk und Heimat, Sitten und Gebräuche. Einer von ihnen war bereits mit 19 von den Ungarn verhaftet worden, weil er sich dort zu sehr für das Deutschtum eingesetzt hatte. Später konnte er fliehen. Er war recht melancholisch. Sein Bruder dagegen war lustig und immer zu Späßen aufgelegt.

      „Ein Herr Pavlitschek trifft die Hausbesorgerin und sagt: ‚Stellen Sie sich vor, Frau Pollak, in New York wird alle fünf Minuten ein Mann überfahren’. ’Nein’, sagt die, ‚der arme Mann.’“ Alle Mädel waren begeistert von ihm, vom Ernstl, und Marie wurde direkt etwas eifersüchtig, denn ihr gefiel er besonders.

      Man trennte sich nach zwei Stunden mit dem üblichen „Heil!“ und die Burschen fuhren noch in der Nacht nach Wien zurück, nicht ohne sich dort mit den Mädchen zu verabreden. In ihrem Bett konnte ein junger Backfisch lange nicht einschlafen, weil er dem Treffen entgegenfieberte.

      Am frühen Morgen saßen alle wieder im Zug und nahmen mit einem weinenden und einem lachenden Auge Abschied von dem gastfreundlichen Gmunden. Weinend, weil es so wunderschön gewesen war, und lachend, weil es nach Wien ging. Dr. Weißflog war heilfroh, dass er den Bienenschwarm bis dahin ohne Zwischenfälle durchgebracht hatte.

      Die Fahrt ging am Traunsee entlang durch das Salzkammergut und alle hingen an den Fenstern um die atemberaubende Landschaft zu bewundern. Am offenen Fenster flog so manches schwarze Rußkorn ins Auge, aber das tat der Begeisterung keinen Abbruch. In Bad Aussee war der Anschluss weg, daher musste man dort übernachten. Im „Herzog Johann“ fand Dr. Weißflog Quartier für seine Mannschaft. Später traf man sich mit den anderen Gruppen und verbrachte im „Kleinen Prater“ den Abend bei Musik und Tanz.

      Am anderen Morgen kamen die Mädchen kaum auf die Beine, denn schon um fünf Uhr war Wecken. Es reichte gerade für einen Schluck Kaffee, denn wie immer war man zu spät dran. Im Fiaker ging es im Galopp zur Bahn und der Zug wurde gerade noch erreicht. Alle waren erschöpft und der Doktor vergaß sogar die bereits gefürchtete Strafpredigt. Weiter ging es mitten durch die Alpen, hohe Felsen zu beiden Seiten, zum Teil noch mit Schnee bedeckt, Gletscher und tief im Tal buntgefleckte Rinder. So etwas hatten die Mädchen noch nicht gesehen. Schließlich erklomm der Zug die berühmte Semmeringhöhe. Er wand sich mit vielen Kurven schnaufend, Funken und Rauch ausstoßend durch Tunnel, über Brücken und Viadukte, und wieder klebten alle an den Fensterscheiben.

      Endlich lief der Zug in Wien ein und die Bekannten aus Gmunden standen schon da, winkten und jodelten. Alle wurden fest umarmt – Marie etwas fester? – und zum Quartier „Zum Goldenen Tor“ begleitet. Nachdem sich die Gruppe frisch gemacht hatte, brach man zu einem Stadtbummel auf. Alles schien hier beschwingter und sorgloser zu sein, fand Marie. Alles so „g’müatlich“, selbst der Straßenbahnschaffner. Dr. Weißflog gab ihm 28 Fahrscheine, die hier „Billets“ hießen, und der fragte nur ob’s stimmt.