Klaus Schröder

Fahnen,Flammen, Fanatismus


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gehörte neben Kaninchen, Ziegen, Hühnern und einem Schwein zur Menagerie. Als Marie aber versuchte, den Hund mit Vaters Rasiermesser zu rasieren, gab es die erste Dresche. So was tut man ja auch nicht. Bauz, so hieß der Spitz, war ein richtiger Schlawiner. Als er sich mal an der Pfote verletzt hatte, wurde er viel herumgetragen. Er hinkte auch noch, als die Wunde längst verheilt war. Allerdings nur, wenn jemand hinsah.

      Als später die Schule begann, hatte Marie endlich viele Freundinnen. Deren Eltern waren zwar durchweg vermögender, aber das herrliche Grundstück zog alle an und Paul verstand es immer wieder, entzückende Gartenfeste zu veranstalten. Da konnte man so laut sein, wie man wollte, denn das Gelände grenzte auf der einen Seite an einen Friedhof und auf der anderen an eine Gärtnerei. Die Toten und die Blumen beschwerten sich nicht. Der kleine Park lag direkt an der Elbe und die Kinder machten sich einen Spaß daraus, versteckt im Gebüsch, die auf der Elbpromenade spazierenden Liebespaare zu belauschen. Danach wurden dann die tollsten Geschichten um das Erlauschte gesponnen.

      Nach vier Grundschuljahren ging Marie in die Höhere Mädchenschule. Ihre Mitschülerinnen kamen aus der „besseren“ Gesellschaft, Marie wurde aber sofort integriert. Nicht nur wegen des Parks und der vom Vater organisierten Feste. Zwei adlige Mädchen waren Flüchtlinge aus Russland. Die Väter erschossen, die Güter beschlagnahmt, brachten die Mütter sie mit Nachhilfestunden durch. Nina sprach zuhause jeden Tag eine andere Sprache und in der Schule war sie ein Ass. Eine andere Klassenkameradin, Traute, war das einzige Kind eines Fabrikanten. Sie hatte alles, nur keine schlanke Figur, denn sie aß und naschte für ihr Leben gern. Deshalb fuhr sie jedes Jahr mit ihrer Mutter nach Karlsbad in die Tschechoslowakei, um dort für viel Geld ihre Pfunde abzuhungern. Sie kam schlank zurück und hatte nach drei Monaten wieder alles aufgeholt. Sie musste deshalb mit dem Fahrrad zur Schule fahren, aber ein Chauffeur begleitete sie im Auto, einem Maybach.

      Die Schule hatte gute Ausbilder. Die Fremdsprachenlehrer mussten zuvor zwei Jahre im Ausland unterrichtet haben und der Chemielehrer war ein Experte, aber zu gut für diese Welt. Er wurde der Backfische nicht Herr. Marie war seine Hilfskraft, und wenn er im Nebenraum Unterrichtsmaterial holte, durchstöberte sie sein Zensurenbüchlein. Wenn man es gar zu arg trieb, wurde man gelegentlich zum Schulleiter beordert. Der sah die Sünderin nur lange eindringlich an, das genügte, um in Reue zu zerfließen. Da stand sie nun, zerknirscht am modisch kurzen Röckchen zupfend. „Ziehen hilft nicht, länger machen!“

      Pauls Aktivitäten waren sehr vielseitig. Die Arbeit im Haus, im Garten und mit den Tieren blieb allerdings an der geduldigen Mutter Selma hängen. Das karge Beamtengehalt musste aufgebessert werden und zu Feiertagen kam auch noch die weite Verwandtschaft zum Essen und Feiern. Immerhin hatte er eine sichere Stellung, Polizei brauchte man immer, im Gartenhaus konnten sie umsonst wohnen und zu essen gab es genug. So mussten sie dank der eigenen Haustiere keine Eier zum Stückpreis von 320 Milliarden RM kaufen. Das kostete ein Ei zu Zeiten der Hyperinflation Ende 1923. Auch Fleisch, Gemüse, Obst und Ziegenmilch gab es aus eigener Produktion. Paul musste damals für eine Straßenbahnfahrt 600 RM hinblättern und es gab viele andere Kosten. Deshalb arbeitete Selma von der Früh bis zum Abend in Haushalt und Garten und beklagte sich nicht. Wenn sie mal einen hübschen Stoff für ein neues Kleid bekam, bettelte Marie es ihr oft ab. Die Mutter hätte auch ihr letztes Hemdchen gegeben, wie im Märchen vom Sterntaler. Dabei sang sie von früh bis abends.

      Die schweren Zeiten waren dann nach der Währungsreform im November 1923 Gott sei Dank vorbei und man konnte sich wieder einige Vergnügungen gönnen. Jedenfalls der gehobene Mittelstand und die Beamtenschaft.

      Zu der Zeit wurde Radfahren modern und Paul war sofort dabei. Er brachte sich als Vergnügungsvorstand ein und organisierte fast jeden Sommersonntag Ausflüge in die schöne Umgebung. Picknick im Freien – die Jugend saß meist etwas abseits. Das Trio Marie, Gretel und Ilse war unzertrennlich. Die Freundinnen scherzten: Marie die Kluge, Gretel die Reiche und Ilse die Hübsche. Auch Tanzvergnügen organisierte Paul und Marie lernte solche Gesellschaftstänze wie Menuett und Konter. Wenn ihr Vater im Beisein des älteren Reigenpartners dann in der Straßenbahn Fahrscheine für drei Erwachsene und ein Kind verlangte, wäre Marie fast im Boden versunken.

      Als Weltkriegsteilnehmer war Paul selbstverständlich auch im Militärverein. Alljährlich fanden in allen Räumen des Dresdner Ausstellungspalastes Bälle statt. Das hatte den Vorteil, dass man tanzend den Eltern entschwinden konnte. Bei den schicken Fähnrichen brauchte Marie nie Mauerblümchen zu sein. Hier tanzte man modern, Charleston zum Beispiel.

      „Das ist keine Kunst“, erklärte sie dem Vater, „Man muss sich nur vorstellen, dass man einen Floh im Rücken hat und die Schlüpfer verliert.“ „Na danke“, sagte Paul.

      Spätestens um Mitternacht stand er mit dem Mantel an der Tür, ein stummer Mahner, manchmal geduldig und schwitzend eine ganze Stunde lang. Dann wurde es aber ernst. Gewöhnlich gingen sie per pedes nachhause und Marie hinkte in ihren hohen Absätzen lahm hinterher. Vaters Worte „Beim Tanzen warst du aber nicht so schlecht zu Fuß“ marterten ihre Seele.

      Beim „Verein christlicher junger Männer“ war Paul Ehrenmitglied. Die bliesen Posaune. Zu Festtagen oder zu Pauls Geburtstag stellten sie sich am Tor auf und brachten ein Ständchen. Am Straßenrand standen die Zaungäste. Natürlich hatte er damit gerechnet, auch wenn er sehr erstaunt tat. Drinnen gab es Kartoffelsalat von Selma und dann wurde eine Holztanzdiele im Garten aufgebaut. Die Zaungäste staunten immer noch. Erich, ein posauneblasender Bankbeamter, verdiente schon eigenes Geld und war im heiratsfähigen Alter. Zur Silberhochzeit seiner Eltern saß Marie neben dem Jubelpaar an seiner Seite und wurde von der ganzen Verwandtschaft begutachtet. Sie aber hatte noch keinen Sinn fürs Heiraten. In ihrem Kopf war zurzeit nur Platz für schöne Kleider, ein Zustand, den ihre Eltern mit Geduld ertrugen.

      Dann wurde sie Mitglied im Ruderverein, der nur fünf Minuten vom Haus entfernt sein Vereinsheim hatte. Die Periode des Radfahrens war vorbei, jetzt stieg man jeden Sonntag ins Boot. Meist bildete sich eine Gruppe von Zweisitzern, die elbauf bis in die Sächsische Schweiz ruderte. Dort gab es in einem kleinen Lokal Apfelstrudel und dann Tanztee im Freien. Am Abend ließ man sich hinter einem Raddampfer von der Strömung heimwärts treiben.

      Im Winter war Schneeschuhlaufen angesagt. Bis Tharandt fuhr man mit dem Zug, dann wurden die Bretter mit vielen Lederschnüren vor dem Bahnhof befestigt. Die immer zu kurzen Abfahrten mussten mit mühsamen Aufstiegen errungen werden. Das machte nur in der Gruppe Spaß. Zu Mittag gab es Brote aus dem Rucksack.

      Die Reise zum Treffen des VDA nach Gmunden mit drei Mädeln aus ihrer Klasse und sieben weiteren aus der Schule war der Abschluss und Höhepunkt des unbeschwerten Lebens gewesen. Sie wurden sorgfältig vorbereitet, eine Karte mit Darstellung des Deutschtums im Ausland wurde ausgiebig besprochen. Nach der Reise widmete sich Marie den Vorbereitungen für die Reifeprüfung.

      I-3

      Im März 1929 hielt Marie ihr Schulentlassungszeugnis in den Händen. Jetzt begann der Ernst des Lebens. Nach einer fünfmonatigen kaufmännischen Kurzausbildung bewarb sie sich für die Stelle als Chemielehrling an der Hochschule. Die Zeugnisse waren gut, die Vorstellung beim Professor schien erfolgreich zu sein, dann kam der Bescheid: „Ich habe noch ein Eisen im Feuer, es ist ein junger Mann. Sie sind ein hübsches Mädel. Da werden Sie sicher bald weggeheiratet, und dann fange ich von vorne an.“

      So war das überall. Schließlich erhielt sie eine Anstellung als Telefonistin in der Funk- und Fernmeldezentrale des Polizeipräsidiums Dresden, die ihr der Vater, der jetzt Polizeiwachtmeister war, vermittelt hatte. „Da bist du später pensionsberechtigt.“

      In diesen unruhigen Zeiten war das ein großes Glück. Gerade war der vierte Reichsparteitag der NSDAP beendet worden, Straßenschlachten mit den kommunistischen und sozialdemokratischen Parteigängern waren an der Tagesordnung und erste jüdische Geschäfte wurden zerstört. In Deutschland führte der „Schwarze Freitag“ an der New Yorker Börse haufenweise zu Konkursen und überall wurde jetzt Kurzarbeit eingerichtet. Die Arbeitslosenzahl näherte sich der fünf-Millionen-Grenze. Da war es Gold wert, dass der Vater Beamter war und die Tochter eine feste Anstellung hatte, wenn auch mit geringem Verdienst.

      Mit Wien wurde eifrig korrespondiert, aber eine Einladung hatte der Vater nicht gut geheißen.