Klaus Schröder

Fahnen,Flammen, Fanatismus


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lachten. „Wasser? Ja da aus dem Ziehbrunnen!“ Es war köstlich frisches und kaltes Wasser. Das Mittagsmahl, Brote und Äpfel, wurde am Waldesrand eingenommen. Paul war „Speerwerfen“. Er musste es nicht erklären. Die Frauen und Ernst konnten länger aushalten.

      Dann kam die letzte Tagesetappe, zur Bahnstation nach Hützel. Heide so weit das Auge blicken konnte. Nach einiger Zeit kamen Höfe in Sicht, aber nirgendwo Menschen. Nur die vielen Bienenstöcke zeugten von Leben. Marie deklamierte Storm:

      „Es ist so still. Die Heide liegt im warmen Mittagssonnenstrahle … Kein Klang der aufgeregten Zeit, drang noch in diese Einsamkeit.“

      Es hatte sich nichts verändert seit 1852. Auch in Hützel war alles ausgestorben, selbst im Gasthof öffnete niemand auf das Klopfen. Also zogen die vier Wanderer am Bach entlang zum Dorf hinaus und lagerten auf der Wiese. Vater kochte Kaffee mit trockenem Reisig zwischen vier Steinen, die Beine baumelten im kühlen Nass, das Gesicht wurde der Sonne entgegen gestreckt.

      Plötzlich verschwand Ernst hinter Bäumen und kam in Badehose zurück. Kurz entschlossen sprang er ins Wasser, der Bach hatte dort eine tiefe Stelle. Die anderen wuschen sich so gut es ging, um den Schweiß der Wanderung wegzuspülen. Danach frisierten sich die Damen, um wieder in der Zivilisation aufgenommen zu werden. Die Herren nutzten den Rest des heißen Wassers, um sich zu rasieren.

      Gerade wollten sie aufbrechen, da kamen zwei Handwerksburschen den Bach entlang gewatet, Bündel unterm Arm, Pfeife im Mund. Knietief standen sie im Wasser. „He, ist’s hier tief?“, rief einer. „Nö, überhaupt nicht“ kam es wie aus einem Mund. Beim nächsten Schritt hatten sie den Boden unter den Füßen verloren. Aber sie verstanden Spaß und schwammen mit all ihren Sachen weiter, die Pfeife über Wasser haltend. Wie begossene Pudel kamen sie heraus, schüttelten sich und stimmten in das allgemeine Lachen mit ein.

      Mit dem Heidebähnle ging es weiter bis Lüneburg. Während draußen dunkle Wolken aufzogen kuschelte sich jeder in eine Ecke und döste. Es wurde immer dunkler, es grollte, es blitzte, und als der Zug in Lüneburg hielt, goss es in Strömen. Er hatte aber keine Einfahrt, hielt also außerhalb des Bahnsteiges. Trotzdem stiegen die Leute aus und rannten das Stück zum Bahnhof. „Wir warten“, sagte Paul. Doch plötzlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung, aber rückwärts. Paul und Selma sprangen schnell ab, aber Marie zappelte noch drin und suchte ihren Ernstl. Der Zug wurde immer schneller. „Spring ab!“, schrie Papa. Marie warf den Rucksack von Ernst zum Fenster hinaus und sprang mit Todesverachtung aus dem fahrenden Zug. Inzwischen war Selma nach vorn gelaufen und schrie dem Lokführer zu: „Da ist noch einer drin!“ Quietschend kam der Zug wieder zum Stehen. Da stieg Ernst vergnügt und langsam die Trittbretter herunter.

      Jetzt waren alle klitschnass und strebten der Wartehalle zu. Wenigstens gab es hier Kaffee. Überall standen Leute, die auf den Anschlusszug nach Hamburg warteten. Ernst und Marie wollten so gern dem Plattdeutschen lauschen, aber wo immer sie sich hinstellten, hörten die Leute auf zu reden. „Eigenartiger Menschenschlag“, flüsterte Ernst.

      Gegen Neun fuhr der Zug ein. Paul reservierte zwei Abteile. In einem bereitete Selma das Abendbrot, im anderen tanzten Marie und Ernst Walzer. „Donau so blau, so schön und blau, durch Tal und Au wogst ruhig du hin …“ Dann wurde nur noch „lala, lala“ gesungen. Bis Paul sich energisch Ruhe ausbat, um ein Nickerchen zu halten. Die Jugend schaute zum Fenster hinaus.

      In Hamburg wurden sie von Pauls Bruder Fritz abgeholt, der durch Telegramm verständigt worden war. Mit der Straßenbahn fuhren sie zum Stadtteil Bergedorf, zu Fritz' komfortabler Wohnung oberhalb seines Geschäftes. Es gab ein Radio, Ledergarnitur, einen großen Schreibtisch im Herrenzimmer, ein Bücherschrank mit unzähligen Büchern, eine moderne Küche. Es war die Wohnung eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Tante Grete, eine gebürtige Polin, hatte Klöße mit Sauerbraten aufgetischt, und zum Nachtisch Eis mit Früchten. Bis ein Uhr wurde gequatscht, dann fielen allen die Augen zu. Sohn Fritzi, ein aufgeweckter „Hamborger Jung“ war schon lange im Bett. Ernst schlief im Herrenzimmer auf dem Ledersofa.

      Am nächsten Morgen brachte sie die Bahn nach Aumühle, dann ging es weiter zu Fuß durch den Sachsenwald zur Waldsiedlung Dassendorf, wo Fritz ein Wochenendhaus besaß. Das Grundstück war sehr groß, bewaldet und hatte einen Karpfenteich, an dem Paul sofort die Rute auswarf und nach fünf Minuten das Mittagessen herausfischte. Danach sollten Pilze gesammelt werden, aber die Jugend rannte nur herum, durch Gestrüpp und Büsche, und spielte „Hasch“. Sie kamen ohne Pilze, aber mit etlichen Schürfwunden zurück. Zum Glück waren Paul und Selma ernsthafter gewesen und hatten fleißig gesammelt.

      Zum Abendbrot gab es beim Schein einer Petroleumlampe köstlich geschmorte Pilze, „Schwammerln“, wie Ernst sie nannte. Dann mussten die Enten, der ganze Stolz von Onkel Fritz, in ihr Häuschen gescheucht werden. War das geschafft, kamen sie vergnügt quakend auf der anderen Seite wieder hinaus und schwammen noch eine Runde.

      Am Abend wurde erzählt. Man sprach über die Situation in Deutschland. Die völkisch-bündische Jugend hatte sich der HJ und dem BDM angeschlossen., die Hälfte der fünf Millionen Erwerbslosen war auf die Wohlfahrt angewiesen, während in Kiel ein neuer Panzerkreuzer vom Stapel lief. „Dafür ist Geld da“, kommentierte Selma die Zeitungsmeldung.

      Auch in Wien gab es rechtsextreme Tendenzen, aber Ernst wäre nicht er selbst, wenn er nicht wieder einen Witz auf den Lippen gehabt hätte. „Die neureichen Pollaks gehen in die Oper, um ihr erworbenes Vermögen zur Schau zu stellen. An der Garderobe wird die Frau von der Garderobiere gefragt: ‚Wünschen Frau Baronin ein Opernglas?’ ‚Nein danke’, sagt die, ‚wir trinken aus der Flasche’“ Mit Blick auf Grete entschuldigte sich Ernst schnell, Pollak sei kein Schimpfwort, sondern ein Name. „Wollt ihr noch einen? Da trifft Graf Bobby auf dem Opernring einen Dienstmann, der auf seinem Rücken eine große Standuhr schleppt. Bobby geht auf ihn zu und sagt: ‚Lieber Herr, das ist doch zu unpraktisch.’ Er zeigt auf seine Armbanduhr. ‚Kaufen’s so ane, dös is praktischer.’“

      Waschen musste man sich draußen an der Quelle. Am Morgen stand in jeder Ecke einer mit Handtuch und Seife. Dann sollten Marie und Ernst zum Krämer laufen. Es fehlte das Salz. Kaum waren sie zurück: „Ihr könntet auch noch ein paar Eier holen, das wäre doch toll zum Frühstück. Also rannten die zwei abermals los.“ Endlich saßen alle am Tisch. Später baute Paul mit Fritz eine Tür aus Birkenholz und die beiden Jungen waren überall, meist jedoch dort, wo sie nicht gebraucht wurden. Sie streiften durch die Siedlung und beobachteten das Sonntagsleben. Dort drei Mann beim Kartenspiel, eine Frau klopfte Decken aus, Kinder spielten im Sand. Fast überall stand ein Auto vor der Tür der gutsituierten Hamburger Geschäftsleute. Was für eine friedliche Zeit.

      I-4

      Am Montag hieß es Abschied nehmen vom kleinen Paradies. Ernst verscheuchte mit einem flotten Spruch die Abschiedsgrillen. „Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht den Jäger blasen?“ Fritz führte sie an Hünengräbern und uralten Bäumen vorbei zum Bismarck-Mausoleum Friedrichsruh. Dort stiegen sie in den Zug nach Hamburg und im Rest des Tages wurde unter Fritzis Führung die Innenstadt mit der Straßenbahn erkundet. Rathaus, Jungfernsteg, Uhlenhorster Fährhaus, Landungsbrücken. Die „Deutsche Werft“ lag still, kein Kran bewegte sich. Deutschland am Abgrund.

      Der Dienstag war der Höhepunkt der Reise. Alle waren zeitig auf den Beinen, erwartungsvoll und aufgeregt. Tante Grete aber war noch früher in der Küche und hatte Unmengen Brote, Fleisch, Schnitzel und Obst für jeden zurechtgemacht. Das Essen auf Helgoland war teuer. Jeder bekam noch warme Kleidung mit auf den Weg, dann betraten die vier Feriengäste das Seebäderschiff, den Turbinen-Schnelldampfer „Cobra“.

      Für die Landratten war das, als würden sie eine Weltreise beginnen. Matrosen rannten zwischen den an Deck stehenden Passagieren hin und her, Kommandos erschollen, ein Pfiff, dann wurde der Landungssteg eingezogen. Das Schiff schwankte etwas und manche blickten schon jetzt ängstlich. Der Dampfer fuhr mit stampfenden Maschinen los, Punkt sieben Uhr. Zugleich spielte eine Bordkapelle „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …“

      Taschentücher winkten, am Kai und auf dem Schiff. Tante Grete wurde immer kleiner. Langsam glitt der Dampfer an den Vororten Hamburgs vorbei, die Kapelle spielte flotte Weisen und