Klaus Schröder

Fahnen,Flammen, Fanatismus


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nach hinten und wieder zurück, alles bewundernd und sinnend auf die weite Wasserfläche blickend. Das war doch etwas anderes als die kleinen Raddampfer auf der Elbe. Sie stöberten in allen Ecken und drangen bis in den Maschinenraum vor.

      Draußen wehte ein steifer Wind. Hüte auf und Kragen hoch. So viel gab es zu sehen. Fischdampfer, Segelboote, Bugwellen mit Schaumkronen. Möwen umschwärmten das Schiff und fingen die zugeworfenen Bissen im Fluge auf. Als ein Regenschauer aufkam, verzogen sich auch die Letzten unter Deck. Dort wurde sogar nach den Klängen der Kapelle getanzt. Auch Marie und Ernst versuchten zu tanzen, aber das Schiff tanzte auch und ließ das Paar aus dem Takt geraten. Was für ein Spaß. Jeder schien sich zu kennen, lächelte dem anderen freundlich zu und machte Scherze. Urlaubsstimmung eben.

      In Cuxhaven legte das Schiff an und neue Passagiere kamen an Bord. Die Gelegenheit wurde genutzt, um eine Postkarte mit der Schiffsansicht „Auf hoher See“ an die Telefonzentrale in Dresden zu schreiben. Der Stempel würde Eindruck machen. Dann wurde es stürmischer, der Seegang stärker und das Schiff tauchte stark in die Wellen ein. Matrosen schlenderten gemächlich mit Eimer und Besen hin und her und schrubbten fallen gelassenes über Bord. Je stärker das Schiff schwankte, umso schneller rannten sie. Manche Leute konnten das Auf und Ab und das seitliche Rollen eben nicht ab.

      Die Frage, welche Windstärke das wohl sei beschäftigte Marie und Ernst sehr. Gelegenheit, mal mit einem der schneidigen Offiziere ins Gespräch zu kommen. Gemeinsam gingen sie nach unten. Beim Offiziersspeisesaal stand „Eintritt verboten“, aber Marie übersah das Schild. So’n oller Seebär schaute sie fragend an. “Na min Deern, wat wist ju dor?” Sie fasste sich ein Herz: „Bitte können Sie mir sagen, welche Windstärke wir haben?“ Der Bärtige lachte übers ganze Gesicht. „Windstärke? Gor keen!“ Marie schaute enttäuscht. „Nu, Frollein, sechs sind’s schon, aber bei uns beginnt Wind erst bei Stärke Acht!“, erläuterte er auf Hochdeutsch, damit die Landratte das auch verstand.

      Das war natürlich übertrieben und Marie kam sich auf den Arm genommen vor. Gern hätte sie mit vielen Windstärken geprahlt. Die Tür nach draußen ließ sich nur mit zwei Mann öffnen und an Deck musste man sich gegen den Wind stemmen. Stärke sechs, lächerlich. Ihr Seidentuch flatterte davon. Es waren fast nur Männer draußen, aber Marie wollte sich keine Blöße geben. Ab und an kamen noch mehr zur Reling, ziemlich blass, die dann lebhafte Zwiesprache mit dem Meer hielten.

      Marie hielt sich tapfer, aber als neben ihr eine Dame ihren Geist aufzugeben schien, wurde auch ihr mulmig und sie rannte nach unten zu Muttern. Nur ein paar Minuten setzen. Dann ging’s wieder. Oben kam sie gerade zurecht, als Ferngläser gezückt wurden, um die Wasserfläche abzusuchen. Dann ein vielstimmiger Ruf: „Helgoland in Sicht“. Ein kleiner dunkler Fleck der sich schnell zu einem mächtigen Felseneiland entwickelte. Alle waren in Hochstimmung. Ein Hamburger erklärte den Greehorns die Bedeutung des Gedichtes:

      „Grün ist das Land, rot ist die Kant,

       weiß ist der Sand. Das sind die Farben von Helgoland.“

      Die Fahrt wurde langsamer, die Ankerkette rasselte, dann schwiegen die Kolben und das Schiff stand. Weit vor der Insel. Was nun? Aber schon kamen kleine Motorboote, und gingen längsseits, um die Landratten zur Felseninsel überzusetzen. „Die heißen ‚Börteboote’ informierte der Hamburger, „und die Insel auch ‚Das Heilige Land’, wegen des guten Klimas.“ Er selbst blieb bis Sylt an Bord, wo er seinen Urlaub gebucht hatte. Das Ausbooten machte viel Spaß, den älteren weniger. So manches „Huch!“ entfuhr den älteren Damen, die dann todesmutig am Arm von abgehärteten Seebären den Sprung in das schwankende Boot wagten.

      Die Sonne schien gnädig, es war zwei Uhr. Sie hatten zweieinhalb Stunden Zeit, die Insel zu erkunden. Sofort wandten sie sich dem Oberland zu, die senkrechte Felswand vor sich. Die Eltern nahmen den Fahrstuhl, die Jungen rannten den Zickzackweg nach oben, zwei Stufen auf einmal. Sie waren sogar schneller oben als Selma und Paul, wenn auch außer Atem. Die hatten auf den nächsten Aufzug warten müssen.

      Kinder boten Muscheln und Seesterne an. „Nur 10 Pfennige das Stück!“ Ernst wurde weich. Von oben ein zauberhafter Blick, tiefgrünes Wasser ringsum, die Sanddüne mit dem Badestrand, die Hafenanlagen. Auf dem Ankerplatz große Schiffe, von den kleinen Booten eifrig besucht, die Leute hin- und hertransportierten.

      Die Zeit reichte nur für ein kurzes Picknick im Gras. Ernst musste noch mit dem Beefsteak in der Hand seinen Rucksack schultern, dann noch ein kurzer Weg entlang der schmalen Straße direkt am Abgrund, dem Falm, noch ein Foto, und schon ging es wieder abwärts, die Treppe hinunter. Auf dem Unterland kleine Fischerhäuschen, die großen Netze am Zaun zum Trocknen aufgehängt. An der Kaiserstraße war das Angebot an preiswerten Waren in den vielen kleinen Läden sehr verlockend. Jeder kaufte noch schnell ein Andenken oder Wollwaren. Marie zog ihren Pullover gleich über, aus Angst vor der Zollrevision.

      Die Landungsbrücke war mit den Fahnen aller Nationen geschmückt und von allen Seiten kamen Menschen, die auf das Schiff zurück wollten. Ein letzter Blick. Kräftige Hände halfen beim Einstieg. Einer umfasste Maries Hüfte und hievte sie mit Schwung ins Boot, das taten sie gern bei jungen Mädchen. Draußen wartete schon der Dampfer, es war der „Kaiser“, die Cobra war weiter nach Sylt gefahren.

      Schon an Bord, gerade wollte man zum Oberdeck hinaufsteigen, empfing sie ein donnerndes „Halt! Zollrevision!“ Marie mit ihrem kleinen Rucksäckchen ließ man mit einer Handbewegung passieren, aber Ernst erregte mit seinem Riesengepäck auf dem Rücken ihre Aufmerksamkeit. Er beteuerte hoch und heilig, nichts schmuggeln zu wollen, und wirklich, die Beamten ließen ihn vorbei. Er behauptete später, das sei seinem sympathischen Dialekt zu verdanken. „Ein Wiener ist halt überall gern gesehen.“ Auch Paul kam mit seiner kleinen Packung Zigarren in der Innentasche der Jacke ungeschoren davon.

      Die vier ergatterten eine schönen Fensterplatz. Paul bestellte ein Bier, Selma und Marie bekamen einen Kaffee und Ernst eine Schokolade. Die Kapelle intonierte einen schneidigen Marsch und langsam setzte sich das Schiff in Bewegung. Die Insel wurde zusehend kleiner, dann blieben auch die Möwen weg. Man war wieder allein mit Neptun auf hoher See. Alle waren jetzt müde, genossen die Ruhe im Liegestuhl oder schrieben Postkarten. Marie und Ernst standen auf dem Achterdeck und schauten in die Wogen. Jeder mit seinen Gedanken, die baldige Trennung vor Augen. Große Frachtdampfer mit zwei oder gar drei Schornsteinen zogen vorbei, dicke Rauchfahnen ausstoßend. Nach dem vierten Feuerschiff kam Cuxhaven in Sicht.

      Marie und Ernst wollten hier einen Tag allein verleben, während die Eltern zu Onkel Fritz in Hamburg weiterfuhren. Paul gab seinem Herzen einen Stoß, nachdem Selma ihn ihrerseits angeschubst hatte und Marie hoch und heilig versichert hatte, brav zu bleiben. Das Winken nahm kein Ende, als gelte es für Monate Abschied zu nehmen. Dann waren die zwei allein.

      Das Abendbrot nahmen sie in einer Fischbratküche ein, dann gingen sie auf Quartiersuche. Hier erfuhren sie, dass am Strand die alljährlich am 11. August vom Reichsbanner organisierten Verfassungsfeiern stattfänden. Zwar waren sie müde von der ungewohnten Seeluft, aber das wollten sie sich nicht entgehen lassen. Die Straßen wimmelten von Menschen, hauptsächlich junge fesche Marineschüler mit ihren weißen Mützen und blauen Bändern. Marie äugte mal hier mal da hin, während Ernst sachkundigen Blickes die einheimischen Mädel begutachtete. Im Pavillon spielte eine Militärkapelle, die zum Tanzen einlud. Die Umzüge interessierten sie weniger, da sie zu sehr politisch aufgezogen waren. Zehn Uhr mussten sie im Quartier sein und jeder ging brav in sein Zimmer, um sofort einzuschlafen.

      Am Tag darauf wanderten sie zum Strand nach Duhnen und auf dem Weg dorthin passierten sie etliche Truppenübungsplätze. „Photographieren streng verboten!“ Es fanden gerade Feldübungen mit leichten Geschützen und schweren Kanonen statt, die im Sand teilweise eingegraben waren. Sie sahen eine Weile zu, dann wanderten sie weiter. In Dunen herrschte lebhafter Badebetrieb, Strandkörbe wurden herangeschleppt und die ersten Badegäste breiteten ihre Handtücher aus. Das Motorboot zur Insel Neuwerk war leider schon weg und der Pferdewagen fuhr erst am Nachmittag. Langsam und still liefen sie weiter am Strand entlang. Das plätschern der Wellen war der einzige Laut, der die Stille unterbrach.

      Sie legten die Zeltplane hinter einem Holzstoß aus, windgeschützt. Die Flut ging langsam zurück und hinterließ einen kahlen Strand. „Du,