Klaus Schröder

Fahnen,Flammen, Fanatismus


Скачать книгу

und die Möwen zankten sich darum. Dann hatte Marie keine Lust mehr und ließ Ernst allein weiterziehen, der unbedingt einmal im Meer schwimmen wollte.

      Sie ging zurück und ließ sich am Holzstoß in der prallen Sonne braten. Wieder schweiften ihre Gedanken um ihr Verhältnis zu Ernstl. Ein guter Kamerad war er, aber als Mann? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Mentalität und Charakter waren doch zu verschieden. Sie hatten es durch Alberei überspielt. Vielleicht war sie auch einfach noch zu jung. Noch nicht einmal volljährig. Papa hatte ihr erklärt, als sie mal allein waren, dass Ernst zwar riesig nett sei, aber Alltag und Urlaub seien ein paar verschiedene Schuhe. In Wien würde sie in einen völlig anderen Kulturkreis kommen. Ob das wohl gut ginge? Er hatte ja Recht. Das Leben lag noch vor ihr. Die Gedanken verlangsamten sich… sie musste wohl eingeschlafen sein.

      „Hallo, melde mich gehorsamst zurück! Das Wasser war wundervoll, gar nicht kalt und erfrischend.“ Jetzt hatte er Hunger und die salzige Luft hatte auch Maries Appetit angeregt. Die mitgebrachten Vorräte waren bald aufgefuttert. Alles wurde eingeräumt und verschnürt, dann ging es zurück nach Duhnen und Cuxhaven. Am Bahnhof mussten sie feststellen, dass der nächste Zug nach Hamburg erst in drei Stunden ging, also war noch Zeit, das Nachmittagskonzert am Strand aufzusuchen, der Musik zu lauschen und aufs Meer hinaus zu schauen. Schiffe zählen. Möwen füttern. Im Sand Figuren ritzen.

      Am nächsten Tag, dem letzten, durchstreiften die zwei noch einmal Hamburg. Sie gingen in den „Michel“, Hamburgs Hauptkirche und Wahrzeichen, die nach dem verheerenden Brand von 1906 in alter Form wieder aufgebaut war. Danach besuchten sie das Museum „Alt Hamburg“ und bestaunten die Sammlung alter Trachten, Schiffs- und Hausmodelle. Mit der Hochbahn fuhren sie für 20 Pfennig um die ganze Stadt herum und landeten schließlich im Hafen. Es war ein trauriges Bild, all die vielen Schiffe müßig und arbeitslos vertäut. Nur ein Dampfer, die „Antonio Delfino“ verließ mit Schlepperhilfe den Ankerplatz. Zum Schluss fuhren sie bei einer Hafenrundfahrt bis dicht an die großen Überseeschiffe heran.

      Am Abend gab es eine Abschiedsbowle für Ernst bei Tante Grete und es wurde noch einmal sehr lustig. Der Alkohol ließ keine Abschiedsstimmung aufkommen und im Bett glitt jeder sofort in einen tiefen Schlaf hinüber.

      I-5

      Marie versah weiter ihren eintönigen Dienst. „Ja bitte? – Sofort, einen Moment bitte“ Stecker ziehen, Stecker einstöpseln. „Bitte sprechen Sie!“ Neben ihr die vier Kolleginnen. Jede tat dasselbe, tagein, tagaus. Acht Stunden lang in wechselnden Schichten. Pensionsberechtigt. In 40 Jahren. Wozu hatte sie die höhere Schule besucht? Es gab Momente, da wollte sie alles hinwerfen. Wenn nicht die netten Kolleginnen gewesen wären. Nur hin und wieder gab es kleine Abwechslungen.

      Nachtdienst. Fünf junge Frauen kämpften gegen Schlaf und Langeweile. Marie war inzwischen 21 Jahre alt. Mechanisch wurden die Verbindungen hergestellt und heimlich die Stunden bis zur Ablösung gezählt. Endlich war es soweit. Da erschien ein Bote aus einem nahen Blumengeschäft mit fünf entzückenden kleinen Sträußchen aus rosa Alpenveilchen. Er hatte keine Karte dazu und wusste nur, dass er sie hier abgeben solle. Fünf Sträuße. Wem sollten sie gelten als ihnen? Tags zuvor hatten sie besonders viel für einen Geschäftsmann zu tun gehabt, nun schickte er anscheinend einen zarten Gruß als Dank. Fünf Frauen gingen beschwingt nachhause, in der Tasche die Blumen sorgsam verpackt, im Herzen einen Sonnenstrahl. Derweil saß im Amt eine Kollegin und weinte Zornestränen. Sie hatte Geburtstag und die Blumen als Tischschmuck für ihre Gäste bestellt.

      So eintönig der Dienst war, außerhalb tat sich so manches, was im Familienkreis zu Diskussionen führte, nicht immer Erfreuliches. Die Arbeitslosenzahl stieg auf über sechs Millionen, in Berlin wurden jüdische Geschäfte geplündert und Personen verletzt, in Altona gab es 18 Tote bei schweren Unruhen, wobei Hitlers[ii] Rabauken, die SA, maßgeblich beteiligt gewesen seien.

      Auch in Wien gäbe es Unruhen und Schießereien, schrieb Ernstl, mit dem Marie nach wie vor in freundschaftlichem Kontakt war. Die Regierung sei zurückgetreten, da sie keine Unterstützung der „Großdeutschen Partei“ erhalten habe. „In Gmunden waren wir doch so hoffnungsvoll gewesen“, schrieb er. „Und jetzt ist alles noch viel schlimmer.“„Was ist das für eine Welt geworden“, stöhnte Selma, Maries Mutter.

      Überhaupt der Hitler, der war inzwischen deutscher Staatsbürger und Regierungsrat von Braunschweig. Paul witzelte, das sei wegen der braunen Farbe geschehen, die Hitlers Gefolgschaft als Uniform trage. Und dann war dieser Kerl plötzlich in aller Munde. Bei der Reichspräsidentenwahl im April erhielt er nach

      Hindenburg[iii] die zweitmeisten Stimmen. Die Zeitungen berichteten fast täglich von ihm und seinem Marktschreier, einem Josef Goebbels.[iv]

      „Man weiß wirklich nicht mehr, wem man noch vertrauen soll.“ Paul war immer mehr verunsichert. „Da verspricht doch jeder das Blaue vom Himmel“. Die einen plakatierten: „Freiheit“ und die anderen „Deutschland erwache!“. Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 erhielt die NSDAP 37,4 %, die SPD nur 21,6 %. Hitlers eitler Gefolgsmann Göring wurde Reichstagspräsident. „Der ist im ersten Weltkrieg mit dem Pour-le-Mérite-Orden ausgezeichnet worden, steht hier in der Zeitung. Das hat dem Gefreiten Hitler sicher die Stimmen der Reichswehr eingebracht“, war Pauls Erklärung.

      Dann wurde es immer chaotischer in Deutschland. Es gab Streiks wegen Lohnkürzungen, Straßenkämpfe mit der SA, Tote, Sondergerichte und immer wieder Notverordnungen, 1932 allein 66, aber nur sechs Gesetze. „So kann es doch nicht weitergehen“, sagte Paul und begrüßte die Entscheidung von Reichspräsident Hindenburg, den General Schleicher nach nur 57 Tagen abzusetzen und Hitler zum neuen Reichskanzler zu ernennen. Es war der dreizehnte. „Das ist wie bei einer Wandergruppe, da muss einer das Sagen haben, sonst quasseln alle durcheinander und keiner weiß, wo’s langgeht“ war Pauls Kommentar

      Bei der Polizei herrschte gute Stimmung. Jetzt wehte ein frischer Wind, und man musste nicht mehr gegen zwei Fronten kämpfen. Aus Anlass der Machtübernahme paradierten in Berlin etwa 15.000 Mitglieder von SA, SS, und „Stahlhelm“ mit einem Fackelzug durch das Brandenburger Tor.

       „Kameraden, wir marschieren in die neue Zeit hinein. Adolf Hitler soll uns führen, wir sind stets zum Kampf bereit.“

      Sein Buch hieß „Mein Kampf“, die KPD rief zum Generalstreik. Alle wollten kämpfen. „Was für eine schreckliche Zeit“, jammerte Selma. „Pass bloß auf dich auf, Paul“. Er war jetzt Kommissar der Schutzpolizei. Immer in vorderster Front.

      Die Morgenblätter berichteten am 28.2.1933 in riesigen Schlagzeilen: „Der Reichstag brennt!“ und die nationalsozialistische Presse ergänzte: „Das ist das Werk der Kommunisten und Juden!“ Kurz darauf wurden in einer neuen Notverordnung die Reichstagsmandate der KPD aufgehoben, und schon knapp einen Monat später wurde ein „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom Reichstag gegen die Stimmen der SPD verabschiedet.

      „Art. 1. Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden.

       Art. 2.…können von der Reichsverfassung abweichen.“

      Hitler hatte zu einer „Entscheidung über Frieden oder Krieg“ aufgerufen. Er hatte den Fortbestand der unabhängigen Justiz und der Länder, die Respektierung der Rechte der christlichen Konfessionen, den Fortbestand des Reichstags und des Reichsrats versprochen. Nach der Abstimmung und begeisterten Ovationen wurde stehend das Deutschlandlied gesungen.

      Marie brachte von einer Kollegin ein Flugblatt des „Vorwärts“ mit, des bereits verbotenen Organs der SPD, das Paul sofort verbrannte. „Kind, willst du mich unglücklich machen? Ich bin Beamter!“ Sie verstand nicht ganz, was das miteinander zu tun hatte, noch nicht. Vor der Vernichtung hat er das Blatt aber doch noch gelesen. Es informierte über das Zustandekommen des „Ermächtigungsgesetzes“, dass die Kroll-Oper mit der Hakenkreuzfahne geschmückt war, draußen hatte die SS den Saal abgeriegelt und die SA stand drinnen in langen Reihen um die kleinen Parteien einzuschüchtern.