Anina Toskani

Braco - kleiner Bruder, großer Engel


Скачать книгу

Energie zu uns kam und unsere Gemüter beruhigte. Ich beschloss, Deli an diesem Abend in Ruhe zu lassen. Wir gingen früh zu Bett und schliefen ungestört.

      Am nächsten Morgen, einem Freitag, ging ich, wie gewohnt, mit dem Rotkäppchenkorb fürs Früh-stück zu Deli. An der Tür empfing mich eine verstört aussehende Greisin, die auf jedes Wort freundliche Wort aggressiv reagierte. Sie war nicht wiederzuerkennen. Deli schrie mich an, ich solle abhauen und ging mit Händen und Füßen auf mich los, bevor ich verstand, was überhaupt los war. Ich erkannte sie nicht wieder, sie war mir völlig fremd und verhielt sich, wie nie vorher, in all den Jahren. Es lag eine Atmosphäre von Hass in der Luft, die mir völlig fremd war.

      In der Wohnung war es dazu so stockfinster, dass man nicht die Hand vor den Augen sah. Also ging ich flugs an Deli vorbei und versuchte, erst einmal Licht in das Dunkel zu bringen, indem ich die elektrischen Rollos im Wohnzimmer per Knopfdruck betätigte. Doch, mein Druck auf den Schalter verursachte, dass der Schalter irgendwie streikte und die große Rollo schief auf halber Höhe hängenblieb. Dann funktionierte der Schalter gar nicht mehr. „Das fängt ja schon gut an!“ dachte ich, „hier spukt es tatsächlich!“ Deli hatte erstaunlicherweise im Bad die Rollo inzwischen selber korrekt hochgefahren und war nun richtig stinkwütend auf mich, dass ich angeblich ihre Rollade kaputtgemacht hatte.

      Als mein Blick in die Küche fiel, sah ich, dass die schweren Einkaufstaschen vom Vortag, die Vida mitgebracht hatte, unaufgeräumt in der Küche herumstanden und vermutete richtig, dass auch die Wäsche noch im Keller, in der Waschküche, liegengeblieben war. All diese Dinge hatte Deli bisher, ohne zu murren, selber erledigt. Allmählich merkte ich, wie Ärger und Frustration in mir hochstiegen und mich regelrecht übermannten. „Mein freier Freitag!“ dachte ich ärgerlich, „muss nun so für Blödsinn dahingehen!“ Ich versuchte krampfhaft, mich zur Ruhe zu zwingen, so gut es ging, konnte mir aber eine bissige Bemerkung nicht verkneifen, dass Deli es sich auf Kosten anderer einfach gutgehen lasse, ohne zu bedenken, wieviel Arbeit die Putzhilfe und ich regelmäßig für sie erledigen würden.

      Als ich mich direkt neben Deli auf die Couch setzte und nun da saß, wo sie stets ihren bösen inneren Stimmen zu lauschen pflegte, schien das bei Deli eine Art inneren Kampf auszulösen. Ich spürte, wie zwei Mächte gegeneinander prallten. Es lag wieder einmal eine elektrische Ladung in der Atmosphäre, die mir unheimlich vorkam. Ich stand auf, bat laut und energisch Erzengel Michael um Hilfe für die Reinigung des Wohnzimmers und ging durch den Raum. In Deli’s Gesicht wechselten Emotionen wie in einem Film: sie schien von einem inneren Kampf unsichtbarer Parteien beherrscht zu sein, schwankte zwischen Jammern, Wehklagen und übelsten Wortattacken gegen meine Person. Sobald sie Schimpftiraden gegen mich losließ, meldete sich bei ihr das schlechte Gewissen. Wir waren beide mit der Situation hoffnungslos überfordert. Schließlich schrie sie mich an, sie wolle gar nichts mehr außer Sterben und ich solle doch endlich abhauen. Schockiert wich ich zurück. Da ich sie, als einzige Tochter, sehr liebe und verehre, fühlte ich mich tief verletzt. Ich schwieg und, während ich alles Liegengebliebene aufräumte und die Wäsche aus dem Waschkeller heraufholte, übermannte mich eine Art bleierne Todesmüdigkeit nach der arbeitsreichen Woche. Ich fragte mich, wieso ich nur Undank für meinen Einsatz erntete und von ihr ununterbrochen zurückgewiesen wurde, obwohl sie mich als ihre einzige Vertrauensperson so sehr liebte. Dann spürte ich, wie eine deftige handfeste Wut über ich-ren Starrsinn in mir hochkochte. Ich war fix und alle, nachdem ich endlich die Reste der trockenen Wäsche aus dem Keller geholt hatte. Atemlos kam ich die Treppe herauf mit dem Waschkorb unter dem Arm. Ärgerlich warf ich zuletzt, noch immer ganz außer Atem vom Hin- und Her Gerenne, die trockene Wäsche auf die grüne Couch mit den Worten, die Unterwäsche könne sie wenigstens selber in den Schrank einräumen anstatt dauernd den dämlichen inneren Stimmen zu lauschen und sich auf die faule Haut zu legen. Als sie daraufhin wieder aggressiv zurückbellte, riss mir der Geduldsfaden und ich brüllte meinen ganzen Frust über die Situation mit meiner Opernstimme heraus. Ich schrie, bei mir sei die Toleranzgrenze erreicht und sie solle doch einmal über ihr störrisches Verhalten nachdenken. Dann rannte ich aus der Haustür, warf diese hinter mir zu mit Schwung und überließ Deli ihrem Schicksal. Ich war aufgelöst, zwischen Wut und Verzweiflung, völlig außer mir, rannte den ganzen Weg bis zur Wohnung, wo ich atemlos und tränenüberströmt, natürlich inzwischen von Gewissensbissen geschüttelt, ankam. Daheim sank ich auf meine kleine schwarze Chesterfield und brach in Schluchzen aus. Mit den Nerven am Ende, saß ich da, das Gesicht in den Händen vergraben und dachte: „ So kann es nicht weitergehen. Irgendetwas muss geschehen, ich halte das nicht mehr aus!“ Den heimtückischen Angriffen der Dämonen aus heiterem Himmel und deren anhaltenden Versuchen, mich in Delis Nähe immer in Wut, Scham und Schuldgefühle zu bringen, war ich immer wieder hilflos ausgeliefert.

      Deli verstand es nämlich meisterhaft, bei mir sämtliche Knöpfe zu drücken, bis ich auf die Palme ging. Genau das gleiche Spiel hatten Delis Alzheimer Dämonen wohl auch mit meinem Vater getrieben. Ich zerbrach mir Stunden den Kopf, wie ich mich selber in den Zustand eines Buddha versetzen könnte, der gegen unflätige Beschimpfungen und jedes aggressive Betragen gefeit ist, Gleichmut und ein Lächeln in allen Lebenslagen bewahrt. Deli war oft für jede Aufmerksamkeit und Miteinander dankbar, wenn ich sie in normaler Verfassung antraf. Aber Attacken waren inzwischen an der Tagesordnung. Ich versuchte, sie wie kindliche Trotzphasen zu betrachten und ohne mich darauf einzulassen, mit den Wechselbädern der Gefühle, wie mit einer kalten Dusche, fertig zu werden! Doch, es war viel leichter gesagt, als getan! Als sich die Lage weiter zuspitzte, fiel die gesamte Last des Alltages auf mich. Ich war nun für zwei kleine Haushalte, Versorgung und Sicherheit von Deli, ihre Körperpflege und meinen Ganztagsjob für 20 Kollegen und zwei Chefs allein zuständig. Darüber hinaus konnte ich die Putzhilfe nun nicht mehr allein mit Deli in der Wohnung lassen, sondern musste stets anwesend sein oder Deli ablenken, beschäftigen, mitnehmen zum Spazierengehen oder Einkaufen, damit sie nicht die Putzhilfe attackierte. Sie mochte keine Fremden in ihrer Wohnung! So lastete der Alltag auf meinen Schultern und ich geriet mehr und mehr in den Burnout, ganz ohne es selber zu merken. Ich wusste mir keinen Rat. Zugleich blieb keine freie Minute darüber nachzudenken, denn es gab endlos viel zu erledigen. Ich funktionierte im Alltag wie ein Rädchen im Getriebe. Manchmal, wenn ich im Wohnzimmer Deli’s Reste von Inkontinenz und Durchfall mit einem Putzlappen beseitigte, denn solche Dreckarbeit konnte ich unserer Putzhilfe einfach nicht zumuten, übermannte mich eine wilde Mischung aus Wut, Ekel, Selbstmitleid und totaler Erschöpfung. Gleich darauf, machte ich mir heftige Vorwürfe, dass ich, als einzige Tochter meiner geliebten Mutter, nicht einmal mehr wusste, ob ich Deli lieben oder hassen sollte.

      Am schlimmsten waren jene Rückschläge nach regelmäßigen Phasen der Hoffnung auf Besserung. Niemand kann ermessen, wie es ist, wenn ein Familienmitglied Verantwortung für einen kranken, nicht zurechnungsfähigen Elternteil übernimmt. Auch als erwachsener Mensch bleibt man doch immer das Kind seiner Eltern. Es unmöglich, aus der Eltern-Kind-Rolle herauszuschlüpfen und die Situation, distanziert wie ein Fremder, neutral oder unbefangen zu betrachten. Es war ein langer Lernprozess, bis es mir gelang, trotz aller Wirren und Angriffe, mein Augenmerk, nur auf die guten Seiten zu richten und die bösen Seiten aus Nächstenliebe zu ignorieren, möglichst ohne Protest und, ohne aufgebracht zu sein. Alzheimer Dämonen sind das beste Überlebenstraining, um unbändigen Humor und Geduld in allen Lebenslagen zu entwickeln. Ich lernte mehr und mehr, alles was kam, in Liebe zu akzeptieren. Das war der allergrößte Lernprozess, während dieser anstrengenden Jahre mit Deli und ihren negativen Gedanken. Heute bin ich dankbar für dieses Training, denn, unterwegs im Dickicht von Missverständnissen, Kummer, Schmerz, Trauer, Krankheit und totaler Erschöpfung, begriff ich Buddha’s Lehren in der Praxis und lernte, sie umzusetzen.

      Ich beschreibe die Ereignisse schonungslos offen, nicht, um Mitleid zu erwecken, sondern, um Menschen aufmerksam zu machen, wie sich das Alzheimer Leiden unbemerkt wie ein neues Familienmitglied in die Sippe einschleicht und dann versucht, das Ruder herumzureißen, um negative Emotionen an die Macht zu bringen und den Alltag zu bestimmen. Dann beginnt die emotionale Achterbahntour, die alle Familienmitglieder aufreibt und die Familie heillos zerrüttet. Unbewältigte Vergangenheit gehört in sachkundige Hände, wie auch die Pflege von Alzheimer Demenz. Es braucht Fachpersonal, das die Symptome kennt und damit umgehen kann. Als pflegender Angehöriger eines emotional kranken und dementen Menschen hat man meist wenig Chancen, für die betroffene Person das Richtige zu tun, denn Helfen soll man so viel wie möglich, aber