Birgit Henriette Lutherer

Rabenkinder


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      Gerade noch war die Tochter oder der Sohn ein ganz umgängliches, nettes Kind. Selbst in der „Sturmphase“ der Pubertät war der Nachwuchs einigermaßen erreichbar für die Eltern.

      Doch plötzlich ist alles anders: Kaum erwachsen geworden, werden alle Ver-Bindungen abgebrochen, jeder Kontakt wird unterbunden. Es herrscht Sendepause. Gespräche werden verweigert, erst recht eine Aussprache. Nicht selten spricht das eigene Kind sogar ein rigoroses Kontaktverbot aus.

      Die Eltern sind von jetzt auf gleich getrennt vom Kind. Wie bei jeder Trennung bildet sich ein Vakuum. Eine Leere, die nicht auszuhalten ist. Vor allem die Mütter leiden extrem darunter.

      Bei ihnen bleibt ein immenser Schmerz und große Fassungslosigkeit zurück. Sie wissen meist nicht, was geschehen ist. Sie sind verzweifelt.

      Leider handelt es sich hierbei nicht um wenige Einzelfälle.

      In meiner Praxis als Beziehungsberaterin begegnen mir diese Fälle häufig. Mütter oder nahestehende, überwiegend weibliche Betroffene melden sich bei mir, weil sie mit der emotional stark belastenden Situation überfordert sind und der Schmerz sie überwältigt.

      Quer durch alle Gesellschaftsschichten ziehen sich diese Familiengeschichten, in denen ein Kontaktabbruch Thema ist. Auch betrifft dies keine spezielle Familienkonstellation. Einige Betroffene sind geschieden, andere sind zum Teil sehr lange verheiratet, die einen sind verwitwet, die anderen von jeher alleinerziehend.

      Die familiäre und soziale Situation sowie der Beziehungsstatus der verlassenen Mütter sind so unterschiedlich wie das Leben selbst.

      Alle Frauen haben aber eins gemeinsam: Ihnen wurde von ihrem Kind „das Herz gebrochen“.

      Alle Frauen leiden. Die eine leidet still, die andere reagiert wütend. Alle haben das Gefühl, als hätte ihnen jemand das Herz herausgerissen oder sie wären hinterrücks erdolcht worden.

      Einige betroffene Frauen haben sich bereiterklärt, über ihren Schmerz und ihre Schmach zu berichten. Allesamt sind sie liebevolle Mütter und Frauen, die alles für ihre Kinder getan haben.

      Die Mütter suchen nach Antworten. Antworten auf die Fragen: „Warum? Warum ich? Was habe ich nur falsch gemacht?“

      Häufig denken sie, sie seien schuld. Sie schämen sich und trauen sich nicht, darüber zu sprechen.

      Es gilt als absolutes Tabu, dieses Thema. Schließlich, so glaubt jede der verlassenen Mütter, passieren diese Geschichten in anderen Familien - auf gar keinen Fall in der eigenen.

      Das Geschehene wird geheim gehalten. Es wird vertuscht.

      Wenn es geschieht erfährt die Außenwelt wenig oder nichts davon.

      Wie ein Vergehen, eine Missetat wird es von den Verlassenen versteckt.

      Vom eigenen Kind verstoßen zu werden, ist ein absolutes No-Go in unserer Gesellschaft. Gäbe es einen Familien-Knigge mit einer Rankingliste der No-Gos, würde dieses Verhalten des eigenen Kindes wohl auf Platz eins rangieren.

      Die Frage, was in einer Beziehung zwischen Mutter und Kind geschieht, damit es zum Abbruch des Kontakts kommt, beschäftigte mich mit jedem weiteren Fall aufs Neue. Daher beschloss ich eines Tages dem Umstand nachzuspüren.

      Als ich mit den Recherchen begann, meldeten sich sehr schnell viele Betroffene. Plötzlich fanden sich vermehrt Menschen, die mir von solchen Fällen, die sich im Freundeskreis, im weiteren Familienumfeld oder bei ihren Kollegen ereigneten, erzählten. Jeder schien jemanden zu kennen, der den Abbruch des Kontakts vom eigenen Kind erlebt oder ihn selbst vollzogen hat.

      Insgesamt werden in diesem Buch fünf Fallstudien beschrieben, anhand derer Erklärungsansätze gegeben werden.

      Es berichten Mütter, sowie ein Geschwisterkind, wie sie den schmerzlichen Abbruch erleben und wie das Verhältnis vorher war. Auch ein Sohn, der selbst den Kontakt zu seiner Mutter abbrach, berichtet aus seiner Perspektive und wie es soweit kommen konnte - also sozusagen aus seiner Sicht als Rabenkind.

      Neben der Frage: „Wie konnte das geschehen?“, suchen die Betroffenen Antworten darauf, wie sie mit der Situation umgehen sollen und was sie tun können, um diesen schier unerträglichen Trennungsschmerz zu überwinden.

      An dieser Stelle ein Wort zu den Vätern, die nicht übergangen werden sollen: Sie waren auf mein Nachfragen hin nicht bereit, sich zu äußern. Sie leiden auch, jedoch oft, selbst für ihre Partnerin, nicht erkennbar. Oft fühlen sie sich außerstande, sich zu diesem Thema zu äußern. Sie verdrängen eher. Sie trauern auf ihre Weise: still und für sich.

      Anhand der Fallstudien werden in diesem Buch entsprechende Erklärungsansätze aufgezeigt, die darlegen, was in der jeweiligen familiären Vorgeschichte relevant gewesen sein könnte, sodass die Situation schließlich im Kontaktabbruch gipfelte. Daraus ergeben sich mögliche Antworten auf die über allem schwebende Frage nach dem „Warum?“. Es sollen dem Leser und Betroffenen, mit den Fallbeispielen Denkanregungen gegeben und mögliche Maßnahmen zur Bewältigung der schwierigen Situation angeboten werden. Es soll auch, vielleicht Trost zusprechend, gezeigt werden: „Du bist nicht allein!“.

      Effektive Lösungen können und sollen hier nicht gegeben werden, da jede Familiensituation individuell ist. Oftmals ist eine Situation wegen fehlender Stellungnahme des Kontaktabbrechers auch nicht lösbar. Das Kind, welches sich abwendet, benennt für seine Eltern nicht klar erkennbar, warum kein Kontakt mehr gewünscht wird. Insofern ist immer nur eine einseitige Sicht und Deutung möglich – was sehr frustrierend für die Betroffenen sein kann.

      Daher ist es meist, über die angebotene Hilfestellung des Buches hinaus, ratsam, in der schwierigen Situation professionelle Hilfe in Form einer Beziehungsberatung oder in schwerwiegenden Fällen einer Psychotherapie in Erwägung zu ziehen.

      An dieser Stelle möchte ich mich bei den in diesem Buch beschriebenen Betroffenen für ihre freundliche Mitarbeit bedanken. Ihre Bereitschaft, über ihre sehr persönliche Situation zu berichten, ist keinesfalls selbstverständlich. Für jede und jeden von ihnen war es eine große Herausforderung, sich öffentlich zu bekennen. Nach gründlichem Abwägen entschlossen sie sich jedoch mitzuwirken.

      Ihr Beweggrund war immer derselbe: Anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Geschichte. Zeigen, dass es keine Schande ist, wenn es in der eigenen Familie passiert. Und vielleicht auch ein bisschen Hoffnung geben und Anregung, wie man mit der Situation umgehen könnte.

      Selbstverständlich wurden alle Namen geändert.

      Mir ist bewusst, dass sich ähnliche oder fast identische Geschichten auch in anderen Familien, als den hier beschrieben, zutragen. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich alleine schon aus der Häufigkeit der Vorkommnisse.

      Falls sich die eine oder andere Parallele zu einer Geschichte ergeben sollte, ist diese rein zufällig und unbeabsichtigt.

      Helga und Tobias

      Helga erzählt mir, dass sie schon seit einigen Wochen immer mal wieder zum Telefonhörer gegriffen hat, um mich anzurufen. Bei jedem Versuch stiegen aber Zweifel in ihr hoch. Das schlechte Gewissen plagte sie. Sie fragte sich, ob es richtig sei, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bisher hatte sie sich stets bemüht, kein falsches Licht auf ihre Familie und besonders auf ihre beiden Kinder fallen zu lassen. Schließlich gilt es den guten Ruf der Familie und damit verbunden den ihres Geschäfts zu erhalten.

      Helga ist Mitte fünfzig. Sie und ihr Mann Dieter haben zwei Kinder. Tochter Dörte, die ältere der beiden, ist seit zwei Jahren verheiratet und hat eine Tochter. Tobias, der jüngere Sohn, hat vor fünf Jahren geheiratet und hat zwei Töchter. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter vor etwa vier Jahren ab. Das war kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter. Helga kennt Tobias´ Kinder nicht. Er verwehrt seiner Mutter den Kontakt zu ihnen.

      Nach meinem ersten Telefongespräch mit Helga