Birgit Henriette Lutherer

Rabenkinder


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eine verlassene Mutter, die tief erschüttert ist. Jeder dieser Berichte berührt sehr.

      Helgas Erlebnis erweitert die ohnehin schon schmerzbeladenen Geschichten, um weitere Aspekte. Zum einen ist da der Kontaktabbruch von ihrem Sohn. Zum anderen belastet es sie sehr, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen darf. Tobias verbiete ihr, wie erwähnt, den Kontakt zu sich und seinen Kindern. Für Helga ist das eine große Strafe. Sie empfindet es so, als würde das Leben nicht weitergehen.

      Ich bin mit Helga verabredet. Sie hatte mich gebeten, dass wir uns in einer Großstadt treffen, dort, wo sie keiner kennen kann. Absolute Anonymität ist ihr sehr wichtig. Die erlittene Schmach sei zu groß, wie Helga mir am Telefon mitteilte. In ihrer gesellschaftlichen Stellung könne sie sich das nicht leisten. Sie befürchtet, wenn herauskäme, dass sie ihre „schmutzige Wäsche“ öffentlich wäscht, wäre sie gesellschaftlich ruiniert.

      Als ich an unserem Treffpunkt ankomme, ist Helga bereits da und wartet auf mich. Sie hat für uns eine gemütliche Sofaecke ausgesucht, die sich in einer Nische am hinteren Ende eines Cafés befindet.

      „Helga, am Telefon haben wir schon kurz darüber geredet, wie Ihre momentane Familiensituation aussieht. Können Sie bitte noch einmal zusammenfassen, was geschehen ist?“

      „Nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, mein Sohn Tobias hat jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen. Ich darf meine Enkeltöchter nicht kennenlernen. Tobias hat mir verboten, es in irgendeiner Weise zu versuchen.“

      Kerzengerade sitzt sie auf dem Sofa.

      Ich habe den Eindruck, als wäre Helga innerlich erstarrt. Die Geschehnisse haben sie tief getroffen. Mir fällt auf, während sie mir in knappen Worten über ihre Situation berichtet, dass sie nervös an ihrer Bluse herumzupft. Sie ist um Fassung bemüht.

      „Helga, wie fühlen Sie sich, wenn Sie mir das so erzählen?“

      „Fühlen? Wie soll ich mich fühlen? Traurig und verletzt natürlich. Aber ich versuche, meine Gefühle zu bekämpfen. Ich könnte es sonst nicht aushalten. Und außerdem darf ich Gefühle sonst auch nicht zeigen. Schon gar nicht negative. Dann reden die Leute erst recht und zerreißen sich den Mund. Wissen Sie, wenn man es bei uns im Ort zu etwas gebracht hat und eine gewisse Stellung innehat, dann darf man sich keine Gefühle leisten. Gefühle sind etwas für Loser, Gefühle zu zeigen wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.“

      Helga echauffiert sich geradezu. Mir ist nicht ganz klar, ob es wegen meiner direkt gestellten Frage bezüglich ihrer Gefühle oder ob es vielmehr der Gedanke an ihr gesellschaftliches Umfeld ist. So oder so, für Helga ist es wohl besser, das Gespräch von diesem Thema wegzulenken. Ich möchte sie nicht unnötig in die Bredouille bringen.

      „Sagen Sie, Helga, wie war Tobias als Kind?“

      „Wie meinen Sie das? Wollen Sie wissen, ob Tobias Scherereien gemacht hat? Ob die Leute gesprochen haben?“

      Helga schaut sich ängstlich um, als sie mich das fragt. Fast flüstert sie beim Sprechen. Sie scheint immer auf der Hut zu sein. Geradeso, als hätte sie etwas zu verbergen und Sorge, ertappt zu werden.

      „Nein, Helga, ich denke da an grundlegende Dinge: War Tobias ein ruhiges, pflegeleichtes Kind? Oder war er vielleicht sehr lebhaft?“

      „Ach so, Frau Lutherer, das meinen Sie.“

      Helga beruhigt sich. Ihre zuvor deutlich spürbare Anspannung lässt merklich nach. Es ist, als hätte es Entwarnung für sie gegeben.

      „Also, mein Tobias war ein ganz entzückendes Kind. Schon bei seiner Geburt war er so hübsch. Die Schwestern auf der Entbindungsstation sagten immerzu: ´Das ist ein Kind zum Klauen´. Sie waren ganz hin und weg. Alle, die ihn sahen, waren sofort ganz vernarrt in ihn. Er hatte diesen ganz besonderen Charme. Ich kann Ihnen das gar nicht so richtig in Worte fassen. Am besten zeige ich Ihnen ein Foto.“

      Helga greift in ihre Handtasche und nimmt ihr Portemonnaie heraus. Sie klappt es auf und zeigt mir stolz eine Fotogalerie, die sich in der Innenseite befindet.

      „Schauen Sie mal, das hier ist Dörte, unsere Erstgeborene. Und der hier, das ist mein Tobias. Ist der nicht süß?“

      Helga strahlt über ihr ganzes Gesicht, als sie mir Tobias zeigt. Auf dem Foto ist ihr Sohn ungefähr drei Jahre alt - ein netter kleiner Kerl mit blonden Haaren, rosigen Pausbacken und freundlichem Lachen.

      „Ja, Ihr Tobias ist ein hübsches Kind“, bestätige ich Helga.

      „Nicht wahr? Er sieht aus wie ein kleiner Engel.“

      „Benahm sich Tobias denn als Kind auch wie ein kleiner Engel?“

      „Das kann ich leider nicht behaupten. Ich will damit nicht sagen, dass er böse war oder so. Es war nicht einfach mit ihm. Nichts war vor ihm sicher: Er musste alles untersuchen, anfassen oder auseinandernehmen. Dabei war er auch so tollpatschig. Er musste nur etwas anfassen und schon war es zu spät. Wenn Tobias etwas kaputt gemacht hatte, und ich mit ihm schimpfte, dann hat er mich angeguckt und gelacht. Sein Lachen war so süß, da konnte ich ihm nichts übelnehmen. Niemand konnte ihm da böse sein. Er war ja auch noch so klein.“

      „Als Tobias dann etwas größer wurde, sagen wir mal so acht Jahre alt, ging er da mit den Dingen umsichtiger um?“

      „Nun ja, Umsicht und Tobias – das sind zwei Worte, die nicht wirklich zueinander passen. In vielen Dingen ist er so grob und unvorsichtig und leider immer noch sehr tollpatschig. Das ist bis heute so.“

      „Mir fällt da gerade noch eine Anekdote ein“, fährt Helga fort. „Tobias war vier, nein fünf Jahre alt. Eines Nachmittags schlich er sich unbemerkt in unseren Keller und holte dort aus einer Werkzeugkiste einen Hammer und ein Stemmeisen heraus. Mit dem Werkzeug bewaffnet, ging er in sein Kinderzimmer und begann die Wand damit zu bearbeiten. Von dem Radau aufgeschreckt, schaute ich natürlich sofort nach, was los ist. Da entdeckte ich Tobias in seinem Zimmer. Er kniete neben der Zimmertüre vor einer Steckdose. Tobias war gerade im Begriff mit Meißel und Hammer die Steckdose aus der Wand herauszubrechen. Ich war Gott sei Dank rechtzeitig da und konnte ihn noch davon abhalten. Natürlich stellte ich ihn, nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, sofort zur Rede. Er lächelte mich nur an und erklärte mir dann mit der größten Selbstverständlichkeit, dass er nur mal gucken wollte, wie eine Steckdose in der Wand aussieht und wo die Kabel sind.“

      „Helga, Tobias hatte zu diesem Zeitpunkt ein Alter, in dem Kinder doch schon ganz gut empfänglich sind für Hinweise auf Gefahren. Ich nehme an, Sie haben mit ihm über alle möglichen Gefahren gesprochen.“

      „Ja, natürlich. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, als würde ich gegen eine Wand reden. Tobias nickte zwar immer zustimmend, als ob er verstanden hätte, was ich ihm gesagt habe. Doch es kam häufig vor, dass er kurze Zeit später wieder irgendeinen gefährlichen Blödsinn verzapfte. Es war geradezu so, als hätte er alles wieder vergessen, was ich ihm gesagt habe.“

      „Sie meinen, Sie erreichten Tobias nicht mit Ihren Worten? Oder gab es keine Einsicht?“

      „Auf eine Art glaube ich schon, dass er verstand, was ich von ihm wollte. Manchmal kam es mir vor, als ob er mir zuhörte, aber gleichzeitig irgendwie schon wieder mit einer anderen, neuen Sache beschäftigt war.“

      „Gab es in Tobias´ Tagesverlauf auch mal Ruhephasen in denen er sich erholen konnte? Hielt er zum Beispiel Mittagsschlaf?“

      „Nein. Tobias war den ganzen Tag aktiv. Nachdem ich ihn vom Kindergarten abholte, aß er sein Mittagessen und war im Anschluss sofort wieder beschäftigt. Mittags schlafen wollte er nie. Seine Lieblingsbeschäftigung am Nachmittag war es, den großen Sandkasten vom Spielplatz umzugraben. Daran hatte er die größte Freude. Das machte er stundenlang. Glücklicherweise befand sich der Spielplatz direkt vor unserer Wohnung. So konnte ich vom Küchenfenster aus immer mal nach Tobias schauen.“

      „Dann konnten Sie Tobias mit gutem Gewissen draußen spielen lassen. Spielte Tobias mit anderen Kindern?“

      „Ja, gewiss. Er liebt es im Mittelpunkt zu stehen oder einfach nur