sie doch aber nicht gehen lassen«, schluchzt sie verzweifelt.
»Sie kann mich doch nicht einfach so alleine lassen, das geht doch nicht. Wir haben so viele Jahre um unser Leben gekämpft … . So viele Jahre … .« Weinend vergräbt Sam ihr Gesicht in den Händen.
***
Erst am nächsten Tag schafft es Sam die Kinder von Matt und Jill abzuholen. Die beiden Hunde wurden schon von Laura und Jessica über Neves Zustand informiert. Sam wäre eh nicht in der Lage gewesen auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen. Jetzt sieht sie sich allerdings dazu gezwungen Precious zu erklären was mit ihrer Mutter geschehen ist. Warum sie nicht nach Hause kommt. Warum Sam noch nicht einmal weiß wann ihre Mutter überhaupt nach Hause kommen wird.
Am Ende ihrer Kräfte und eigentlich gar nicht mehr im Stande irgendetwas richtig auf die Reihe zu bekommen, sitzt Sam benommen am Esstisch. Jean im Kinderstuhl neben sich, Precious ihr direkt gegenüber. Sie hat schon gefragt wo ihre Mutter ist und wie es ihr geht, aber Sam schaffte es einer Antwort gekonnt auszuweichen. Jetzt hat sie aber keine andere Möglichkeit, als ihrem Kind die Wahrheit zu sagen.
Sam schaut Precious an und sieht in ihren Augen, dass die Maus ganz genau weiß, dass es um ihre Mutter nicht so gut steht. Nur woher sie das weiß, ist ihr ein Rätsel. Matt und Jill versicherten ihr, dass sie ihr nichts erzählt haben. Precious ist aber nicht blöd. Sie hat gestern Abend selbst miterleben müssen, was mit ihrer Mutter geschah. Irgendwann konnte sie zwar nicht mehr sehen was für Neve getan wurde, aber sie ist alt genug um zu wissen, dass ein umkippen ihrer Mutter nichts Gutes heißt.
Nur zögernd beginnt Sam von der Operation zu erzählen. Davon, dass die Ärzte nun wissen was Neve vergiftet hat. Dass sie dieses komische Teil entfernen konnten. Langsam beginnt sie sich zum Kernpunkt heran zu tasten. Sie will Precious weder überfallen, noch überfordern. Oder traut sie sich selbst einfach nicht das zu akzeptieren was mit ihrer geliebten Frau im Augenblick geschieht?
Precious hört ihr gebannt zu. Sie sagt kein Wort. Sie stellt keine Fragen, nichts. Sie sitzt Sam am Tisch gegenüber und lauscht den Worten, die nur zögernd Sams Mund verlassen.
Irgendwann nickt Precious, sagt ganz leise »Ok« und steht vom Tisch auf. Verwundert blickt Sam ihr hinterher, als ihre Tochter leise und zaghaft die Treppe hinaufgeht. Oben verschließt sie ebenso leise ihre Zimmertür und dann wird es mit einem Mal still. Eine erdrückende Stille kehrt in das Haus ein. Selbst Marley liegt auf seiner Decke und bewegt sich keinen Zentimeter. Er miekst nicht, überhaupt nichts.
Erschlagen von dieser Stille blickt Sam benommen zu Jean hinüber. Die Maus sitzt in ihrem Stuhl und spielt mit ihrem Trinkbecher herum. Übermütig schwenkt sie das kleine Ding in sämtliche Himmelsrichtungen. Sam kann froh sein, dass sie und Neve bei der Kinderausstattung nie auf das Geld geachtet haben und immer das Beste oder funktionalste gekauft haben. Denn wenn sie tatsächlich auf das Geld geachtet hätten, würde der Fencheltee nun durch den ganzen Raum geschleudert werden. Aber nein, der Becher hält Jeans Schleudergang stand und lässt nicht einen Tropfen entweichen.
Als wenn Jean ganz genau wüsste, dass es ihrer Mutter nicht gut geht und sie seit ein paar Momenten schweigend beobachtet, beendet Jean ihre Spielerei. Langsam stellt sie den Becher auf das kleine Tischchen und blickt zu ihrer Mutter. Sie ist wieder so ruhig und besonnen, dass es Sam wie eine schmerzhafte Ohrfeige vorkommt. Jean kann so unfassbar ruhig sein, dass man es tatsächlich mit der Angst bekommen kann.
Dass sie ihre Mutter allerdings mit ihren braunen Augen so intensiv anschaut, dass Sam sich selbst in den Augen ihrer Tochter sieht, macht ihr wieder einmal deutlich, dass dieser Hosenscheißer zu hundert Prozent von ihr kommt. Den Blick den sie ihrer Mutter zuwirft, könnte fast die Hölle gefrieren lassen. Auch wenn Jean nicht weiß welches Gefühl sie in diesem Augenblick ausstrahlt, sprühen ihre Augen eine unermessliche Wut aus. Wut, die Sam in ihrem Herzen spürt. Wut, die von ihr selbst ausgeht. Wut über das, was ihrer Familie angetan wird. Diese Wut spiegelt sich in Jeans Augen wieder. Sam kann es nicht glauben. Sämtliche Verzweiflung die sich in den letzten Stunden in ihr aufgestaut hat, entlädt sich in diesem Augenblick, als sie ihrer Tochter in die Augen schaut. Sie beginnt heftig zu weinen, zieht Jean aus dem Stuhl und presst sie an sich.
Sam weiß, dass es trotz eines Spenderherzens sein könnte, dass Neve nicht mehr aufwacht. Die Medizin ist in ihrer ganzen Zeit schon weit gekommen, aber alles schafft auch sie nicht. Neves Körper braucht das Herz nur abzustoßen und sie wäre verloren.
Diese und tausend andere Gedanken preschen durch Sams Kopf, während sie sich hilflos an Jean klammert. Wenn Neve das alles wirklich nicht überleben würde, wäre sie alleine. Dann wäre sie das erste Mal in ihrem Leben alleine. Dann wäre sie mit den Kindern alleine. Die Kinder, die sie immer wieder an Neve erinnern würden. Precious alleine schon deshalb, weil sie ihre Tochter ist. Auch wenn ihr Aussehen keineswegs mehr etwas mit dem jetzigen Körper ihrer Frau zu tun hat, würde Sam ihre Frau immer und immer wieder in Precious erkennen. Sie würde Neve ununterbrochen in Precious sehen. Sie weiß nicht, ob sie das aushalten würde – ob sie den Schmerz, den Verlust ertragen könnte. Neve wäre verloren und dennoch würde sie in Form von Precious vor Sam stehen.
Jean würde ihren ganz eigenen Teil dazu beitragen. Jean hat Sams Augen, ihre Lippen, ihren Geruch. Alles Dinge die Neve so sehr an Sam liebt. Sam würde Jean sehen und wissen, dass ihre Frau ihre Lippen, ihre Augen und ihren Geruch so unbeschreiblich liebte. Es wäre ein unfassbarer Horror wenn Sam all das in Jean sehen würde und dadurch immer wieder an ihre Frau erinnert werden würde.
Sam vergräbt ihr Gesicht in Jeans kleinen Körper und muss unwillkürlich an den Augenblick denken, als sie den Zwerg zur Welt brachte. Als Neve in dem Geburtsbecken vor ihr kniete und auf dieses kleine Wesen starrte, welches sie mit aller Kraft aus ihrem Unterleib presste. Sam spürte noch nie zuvor in ihrem Leben solche Schmerzen wie in diesem Augenblick. Sie glaubte, ihre Vagina würde in Fetzen zerrissen werden. Erst im Nachhinein wurde ihr klar, dass sie trotz der Schmerzen wusste, dass Neve bei ihr war. Dass durch sie alles nicht so schlimm war. Neve war in diesem wichtigen Augenblick bei ihr und half ihr, ihre Tochter auf die Welt zu bringen. Jean hätte also für den Rest ihres Lebens so oder so die Arschkarte gezogen, weil Sam bei ihrem Anblick immer an den Moment erinnert werden würde, wo Neve die kleine Maus ihrer Frau auf den Brustkorb legte. Jean würde sie also auf ewig an Neve erinnern.
»Tu mir das nicht an, Neve. Tu mir das bitte nicht an«, schluchzt Sam in Jeans Brust. Sie weiß nicht wohin mit sich. Sie fühlt sich so hilflos und alleine. Egal wie sehr sich ihre Freunde und ihre Kids um sie kümmern würden, sie wäre immer alleine. Alleine, weil Neve nicht an ihrer Seite ist. Sie kann das nicht. Sie kann das einfach nicht. Sie wird ihrer Frau folgen, das weiß sie. Sollte Neve das alles wirklich nicht überleben, wird Sam ihr folgen. Sie hat gar keine andere Möglichkeit als diese. Sie kann einfach nicht ohne Neve leben.
***
Mit Jean fest in ihren Armen geklammert, steht Sam mit weichen Knien vor Precious' Zimmertür. Zaghaft klopft sie. Keine Antwort. Sie klopft noch einmal, erhält aber erneut keine Antwort.
»Precious?« Die Frage prallt an der verschlossenen Zimmertür ab. Verlegen, weil sie das eigentlich nur ungerne macht, öffnet Sam ungebeten Precious' Zimmertür.
»Precious?«, ruft sie vorsichtig hinein. Noch immer keine Antwort. Leise betritt sie das Zimmer. Suchend blickt sie um sich. Das Zimmer ist leer. Sam weiß aber, dass Precious hier hereingegangen ist. Sie ist definitiv in ihr Zimmer gegangen. Wo ist sie aber?
Besorgt tritt Sam an das Fenster heran. Verschlossen.
»Precious?« Angst steigt in Sam auf. Wo ist Precious? Es kann doch nicht sein, dass … . Sam reißt sich herum, als sie einen merkwürdigen Laut hört. Ihre Augen richtet sie auf die Schrankwand. Langsam geht sie dort hin. Das Geräusch wird lauter. Es ist ein Schluchzen, ein Weinen.
Eigentlich völlig kraftlos, nimmt Sam Jean zur Seite und setzt sie auf ihr Becken, umgreift den Griff der Schrankwand und öffnet die Tür.
»Precious?« Sams Augen schweifen verzweifelt über die ganze Kleidung die auf der Stange hängt.
»Precious?« Besorgt schiebt sie die Kleidung