Alois Huber

Der Stadtrat in Passau


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als dilettantisches Machwerk gekennzeichnet, das man schnellstens in die Luft sprengen sollte.

      Trotzdem stand das steinerne Mal über ein halbes Jahrhundert da, ohne dass ihm ein Mensch etwas zuleide tat. Aber nun, just sechzig Jahre nach dem Ableben des Dichters, wurde ihm doch etwas angetan. Nicht, dass man es besudelte oder beschädigte. Nein, viel Schlimmeres. Man möchte es von seinem angestammten Platz entfernen und startete zu diesem Zweck eine wüste Lästerkampagne, die monatelang die ganze Stadt in Atem hielt und nun in der heutigen Ratssitzung als Punkt 5 der Tagesordnung zur Debatte stand.

      Die Sache hatte übrigens eine zeitbedingte, sehr reale Ursache. Wie überall hatte sich in den letzten Jahren auch die Geschäftswelt der Passauer Innenstadt motorisiert. Es mussten täglich Lieferwagen zu den Geschäften, und deren Lenker pflegten den Platz just dort als Fahrweg zu benutzen, wo er das Dichterdenkmal trug.

      Man konnte ihnen das nicht verdenken; denn die Strecke war die kürzeste Verbindung zum Residenzplatz. Aber das Denkmal stand ihnen im Wege; es zwang zu einem Bogen und sperrte die Sicht. Außerdem erschwerte es bei den Nachbarn des Poetenhauses, dem Metzgermeister Anton Kälberer und dem Bäckermeister Josef Gutbrot, die Ein – und Ausfahrt durch die Haustore.

      Was Wunder also, dass die autofahrenden Handwerker und Kaufleute dieser Gegend das Denkmal auf einmal entschieden falsch am Platze fanden? Sie randalierten jedenfalls immer lauter gegen das Verkehrshindernis, und eines Tages machte einer von ihnen seinen Groll in einem Leserbrief an die Passauer Neue Presse Luft.

      „Das Denkmal“, so stand im PNP zu lesen, „passt nicht mehr auf den Residenzplatz, der lebhafte Autoverkehr stößt sich laufend daran. Es ist darum ein Erfordernis unsere Zeit, dass es von da verschwindet. An den Ufern des Inn, oder am Bahnhof mag es nicht stören. Hier aber ist es zum Skandal geworden. Also reißt es ab und baut es irgendwo im Grünen wieder auf! Aber dalli, dalli, ehe uns der Kragen platzt! Einer der Betroffenen.“

      Das wirkte wie ein Stich ins Wespennest!

      Nicht im Rathaus. Die für das Wohl und Wehe des Denkmals verantwortliche Stelle der Stadtverwaltung tat vielmehr, als ginge sie die hier zum Ausdruck gekommene öffentliche Meinung einen Dreck an; sie beharrten abwartend in ihrer Ruhe und blieb stumm.

      Umso mehr fühlten sich jedoch der „Verein der Freunde Hans Carossas“ getroffen. Hier saßen die Söhne und Töchter der Denkmalstifter und die nachgelassenen Verwandten des Dichters. Und die gerieten ob der brutalen Kriegserklärung des anonymen Schreibers augenblicklich ins Kochen.

      „Ha, dieser Halunke“ tobte der Fabrikant Horst Buschinski in seiner Eigenschaft als Vorsitzender besagten Vereins und Enkel des Dichters. „Nicht genug, dass er das Denkmal verächtlich zu machen sucht und das Andenken unseres unsterblichen Hans Carossas schmäht – er droht auch! Er kündigt zwischen den Zeilen ein Attentat an! Na, warte, du feiger Barbar, dich werden wir Mores lehren!“

      So Horst Buschinski. Und so auch sein doppeltes Echo: Studienrat Dr. Franz Weißnicht und der Abteilungsleiter Reiner Hohn.

      Bis tief in die Nacht hinein brüteten die drei Tapferen mit dampfenden Köpfen über eine Erwiderung. Dann hatten sie ihren aufgewühlten Seelen einen Schriftsatz abgerungen, der eine Verlegung des Denkmals von seinem traditionsgeheiligten Standplatz an jede beliebige andere Stelle als Entwürdigung der Stadt brandmarkte und von Spott und Hohn über die Kulturlosigkeit und Unverfrorenheit des anonymen Angreifers nur so troff.

      Die Kanonen, mit denen sie solcherart nach Spatzen schossen, sollten dem unbekannten Widersacher einen derartigen Schreck einjagen, dass ihm die Lust zu weiteren Leserbriefen ein für alle Mal verginge.

      Aber was geschah, als die Entgegnung im PNP wortwörtlich veröffentlicht wurde? Die ganze Stadt geriet augenblicklich in einen wahren Taumel der Verzückung: Ah, endlich einmal im grauen Alltagseinerlei der Flüchtlingskrise mal eine Sensation, die das Zwerchfell kitzelte!

      Und der „Betroffene“? Er zog sich keineswegs bestürzt in den Schmollwinkel zurück. Im Gegenteil. Er zeigte sich in seiner Anonymität überraschend mutig und hatte auf die geharnischte Antwort sofort eine nicht weniger geharnischte Erwiderung.

      Und da keiner daran dachte, dem anderen das letzte Wort zu lassen, ging es so Schlag um Schlag weiter, Spott gegen Spott, Hohn gegen Hohn, Zorn gegen Zorn.

      Ein Gaudium, wie es Passau seit hundert Jahren nicht genossen hatte!

      Und ein Knüller für die Passauer Neue Presse, die nie zuvor so interessierte Leser hatte wie in diesen Wochen!

      Doch auch das spannendste Duell geht einmal zu Ende. Hier beschloss es, als in der Hitze des Wortgefechts die Sache selbst schon völlig in den Hintergrund gerückt war, ein dröhnender Paukenschlag, der Horst Buschinski und seinen Vereinsbrüdern schier das Blut gefrieren ließ. Es war der bewusste Antrag des Ratsherrn Anton Kälberer und Josef Gutbrot an das Stadtparlament.

      „Diese Unverschämtheit setzt allem die Krone auf!“, keuchte der Enkel Hans Carossas, als er das Verlangen seiner Ratskollegen schwarz auf weiß vor Augen hatte. „Nein, dass sich Vertreter der Bürgerschaft zu einem so nichtswürdigen Antrag hergeben! Dass es Geschäftsleute in Passau gibt, denen die höchsten Kulturwerte unserer Stadt nicht mehr als eine Tonne Heringe bedeuten! Unglaublich! Unglaublich – und doch wahr!“

      „Nun ja, verehrter Herr Buschinski“, fistelte Dr. Weißnicht, ebenfalls zutiefst entrüstet. „Metzger und Bäcker – gedankenarme und gefühlslose Grobiane von Berufswegen! Wer sonst könnte sich so dummdreist aufführen? Doch wenn Sie zu bemerken erlauben, verehrter Herr Buschinski; jetzt kennen wir unsere Gegner von Angesicht, jetzt wissen wir endlich, mit was für armseligen Geistern wir es zu tun haben!“

      „Gottlob, ein Gutes wenigstens bei diesem Antrag!“

      „Ich darf wohl annehmen, verehrter Herr Buschinski, dass Sie die kommende Debatte zu einem Höhepunkt Ihrer parlamentarischen Tätigkeit machen werden – nicht wahr?“

      „Das muss ich, lieber Doktor, und das will ich!“, rief der Ratsherr flammenden Auges.

      „Dann gratuliere ich schon jetzt zu dem Vergnügen, das Ihnen die triumphale Abfertigung dieser Tölpel bereiten wird, verehrter Herr Buschinski. Passau wird aufatmen und Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet sein!“

      Das öffentliche Interesse an dem Denkmalstreit war, nachdem seit der Bekanntgabe des Antrages Kälberer/Gutbrot kein Leserbrief mehr im Stadtblättchen erschien, merklich abgeklungen. Man hatte wochenlang gefeixt, getuschelt oder sich vor Lachen ausgeschüttelt. Nun hatte der Spaß seine Kraft verloren. Vor dem Stadtparlament war er nur noch eine nüchterne Sache, über die man ein wenig debattieren würde, um sie dann mit einem Ja oder Nein artig zu verabschieden.

      Ob das Denkmal auf dem Karolinenplatz verbleiben durfte oder ob ihm die Ratsherren irgendwo im Grünen einen andern Platz zuweisen würden, das interessierte die Volksmasse nicht.

      Was bedeutete ihr schon der selige Hans Carossa?

      Es gab genug Leute, die bisher nicht einmal gewusst hatten, dass in Passau ein Denkmal dieses Dichters existierte. Sie hatten es noch nie gesehen, sie waren achtlos daran vorbeigegangen, oder sie hatten geglaubt, die steinerne Büste sei eine Art Sagenfigur aus der heidnischen Vorgeschichte des Landes.

      Doch als nun endlich der Abend jener Ratssitzung gekommen war, in der über das Denkmal entschieden werden sollte, erwies es sich, dass unter den fünfzigtausend Passauern doch etliche Dutzend gab, die sich die parlamentarische Behandlung des Falles nicht entgehen lassen wollten.

      Wie Reiner Hohn seinem hochmögenden Chef versichert hatte, stellten dabei die „Freunde Hans Carossas“ tatsächlich eine gute Zweidrittelmehrheit. Die Gegenseite war nur durch drei Personen vertreten. Und die übrigen mussten als Neugierige gelten oder als solche, die eine Auferstehung der munteren Komödie witterten. Immerhin füllten diese drei Gruppen den Zuschauerraum bis auf den letzten Stehplatz.

      Es herrschte schon sehr stickige Luft im Rathaussaal, als der Oberbürgermeister Jürgen Duppmayr zur Klingel griff. Er wollte die Sitzung pünktlich eröffnen. Doch er kam nicht dazu. Ein asthmatischer Anfall machte ihm für