Hintergrund und nebulösen Zusammenhängen?“ fragte der Erzähler sein interessiertes Gegenüber.
„Also gut, dann hör Dir das mal an ..., aber ich warne Dich, komm mir hinterher nicht mit sowas wie ‘Hirngespinste, Phantasterei, reinster Humbug’. Das alles ist wahr, so wahrhaftig wie ich hier sitze und hat sich so zugetragen!“
Und so fing es an:
Ein Waldstück bei Osnabrück, nahe dem Ort Sommertal, am Ortsrand gelegen, es war morgens erst gegen Sechs. Ein neblig beginnender Julimorgen und ein einsamer Waldläufer. Jedenfalls lief er allein, als der Schuss fiel und ihn tödlich an der Schläfe traf und ihn umwarf wie einen Baum. Danach wieder Stille, nur ein aufgeregter Eichelhäher, ‘Polizist des Waldes’ im Volksmund, der sich gestört fühlte, das Rascheln einer in der Nähe vorbeistreunenden Spitzmaus, ein leichter Windhauch, sonst nur die wattedicke Nebelschicht, die die Geräusche von weiter weg wie durch einen dicken Vorhang filterte und fernhielt. Die Schritte des Schützen oder war es eine weibliche Schützin?, etwa 120 m von dort, entfernten sich keineswegs eilig, nachdem die Büchse, ein Repetierer mit Zielfernrohr, das den punktgenauen Schuss auch auf weitere Entfernungen erlaubt haben würde, sorgsam entladen und in die Gewehrtasche verpackt wurde;
nur das Zirpen des Reißverschlusses, der danach zugezogen wurde, war in dieser Umgebung ein ungewohntes Geräusch.
Das Kaliber, stellte man später fest, war .30-06 mit 11,7 Gramm Ladung und einem Torpedo-Universalgeschoß, das die Eigenschaft hat, nach sauberem Eintrittsloch und Aufpilzen im getroffenen Körper, ohne Splitterabgabe ein entsprechend großes
Austrittsloch und damit viel Blutverlust zu garantieren, Schweiß in der Jägersprache, aber hier wurde ja ein Mensch getroffen, wie gesagt ein Waldläufer, der allein war, aber vielleicht doch nicht einsam, jedenfalls vielleicht nicht bis zum Moment des Todes?
Fragen die sich aufwerfen und die, wie wir erfahren werden, später beinahe lückenlos, dennoch aber ein wenig verhangen und unsicher beantwortet werden;
denn es könnte auch ganz anders gewesen sein.
*
Der Tote war starker Raucher, wie Kriminalkommissar Jens Wendehals von der SOKO 7 später feststellte; an Zeige- und Mittelfinger der linken Hand wurden starkgelbe Nikotin- und Teerspuren zwischen erstem und zweitem Fingerglied festgestellt, also ein Linkshänder offenbar.
Was noch anders war, oder jedenfalls etwas aus dem Rahmen fiel bei dem Toten, waren frische Würgemale an den Halsaußenseiten im Bereich des Kehlkopfes und Daumenabdrücke auf der Haut über dem Adamsapfel, mit entsprechenden Hämatomen. Ungewöhnlich war auch oder war zumindest nicht alltäglich, eine frische Schnittwunde auf dem linken Handrücken, messerscharf abgezeichnet mit einer Länge von fünf Zentimetern; nicht tief, aber die Wunde mußte zu großem Blutverlust geführt haben, durch das Anschneiden von Venen und Äderchen. Und die Wunde war keine drei Tage alt. Bei der Obduktion und forensischen Untersuchung wurde später auch festgestellt, dass der Tote auf dem Rücken zahlreiche Narben aufwies von bereits seit mehreren Jahren zurückliegenden Verletzungen, die nicht von einem Unfall herrühren konnten. Wie später eindeutig festgestellt wurde,
stammten die Narben von Metallfäden: Peitschenhiebe?
Von einer neunschwänzigen Katze, diesem Zuchtinstrument aus archaischen Marinetagen, deren Lederriemen mit Metallfäden durchwirkt waren?
Warum sich jedoch die SOKO 7 mit dem Fall beschäftigte und nicht ein gewöhnliches K-Dezernat, war der Umstand, dass sich in dem besagten Waldstück und in den angrenzenden Parks der in einem schlossähnlichen Gebäude lebenden Mitglieder und Anhänger der asiatischen “A”-Sekte (*) in den vergangenen Monaten drei weitere Morde ereignet hatten, die bislang unaufgeklärt geblieben waren. Diese Ereignisse hatten die Bevölkerung und die Sekte in verständliche Unruhe versetzt und das Waldstück wurde seitdem am liebsten gemieden.
Der “Nebelmörder” hieß es bereits hinter vorgehaltener Hand bei den Landwirten und Verwaltungsbeamten und den kleinen Gewerbetreibenden und Ladenbesitzern. Kleinbürgertum, das sich hier am Rande Osnabrücks angesiedelt hatte. Die Menschen hier lebten in kleinen gemütlichen, meist spießig eingerichteten Häuschen und Resthöfen, mit liebevoll gepflegten Gemüsegärtchen und den stets unkrautfrei gehaltenen Vorgärten. Und sie fühlten sich überhaupt nicht mehr sicher in ihrer sonst so ungestörten Umgebung. Schulkinder gingen inzwischen nur noch in kleinen Gruppen und in Begleitung Erwachsener auf dem Schulweg, der für viele am Rande des unheimlich gewordenen Waldstückes vorbeiführte; es waren immer große und kräftige Männer und Burschen, die diese Grüppchen begleiteten und später zu abgesprochenen Zeiten auch wieder abholten.
Bei Befragungen in der Umgebung und unter den Sektenmitgliedern, bei Feststellung der Personalien aller Besucher des Schlosses und der Tagesgäste und bei Überprüfung der Meldeliste, die für jede Übernachtung geführt werden musste,
tauchte ein Name auf, zu dem die Person bislang fehlte:
Daniel Herrmann Wong, ein gemeldeter Gast des Gasthofes “Wilder Hahn” in Sommertal, der seit zehn Tagen dort logierte und als eher unauffällig und zurückhaltend angesehen wurde. Dieser Gast ging nach dem täglichen Frühstück um sieben Uhr und nach beinahe schon ritueller Absolvierung eines Waldlaufes, mit dem angemieteten Fahrrad auf Tour und war immer erst abends, meist nach zwanzig Uhr, zurückgekehrt. Daniel Herrmann Wong sah durchaus nicht chinesisch aus und woher der exotische Name des sehr westlich wirkenden und gekleideten Mannes mit akzentfreiem Deutsch stammte, wusste auch der Wirt nicht zu sagen.
(*) Wir wollen vermeiden, die A-Sekte zu diskriminieren oder gar in einen direkten Zusammenhang mit den Vorfällen zu bringen, obwohl...., aber dazu später mehr.
Es liegt uns auch fern, den Eindruck erwecken zu wollen, derlei trage sich nicht nur ausnahmsweise in Milieu und Umfeld von Sekten zu, obgleich ...
Jedenfalls dürfen wir nicht pauschalieren und wollen keine Vorurteile schüren; denn so etwas kann sich überall und an jedem Ort zutragen, nicht nur im Zusammenhang mit Gruppen von Sekten oder Sektierern?, jedenfalls fanatisch abgespaltenen Minderheiten, die eigene Vorstellungen vom Sein und Werden und dem Danach haben und danach leben, und manchmal auch andere von diesen Inhalten überzeugen wollen, und das nicht immer mit feinen, gar erlaubten Methoden ...
Wir würden zu viel verraten, legten wir an dieser Stelle bereits Akteure und Personen der Handlung fest oder würden wir ihnen gar die eine oder andere, entscheidende Rolle zuordnen.
Wie gesagt, nennen wir die Sekte nicht beim Namen und möchten wir alles offen lassen und soll sich der Leser hinterher selber Gedanken über Zusammenhänge machen.
Wir zeigen hier nur auf, verfolgen Tatsachen, schildern Zusammenhänge, soweit es den oder die Fälle betrifft und sind am Ende hoffentlich auf der richtigen Spur und finden am Ende den richtigen oder die richtigen Täter ...
Die Vermutung ist richtig, dass auch wir jetzt noch nicht mehr wissen als der Leser und es ist uns verwehrt, neugierig auf die letzte Seite zu schauen, auch wenn wir es nicht mehr abwarten können, die Lösung zu kennen, denn diese letzte Seite ist noch nicht geschrieben.
Ob Kommissar Wendehals die Lösung heute und jetzt schon kennt, wissen wir nicht; wir vermuten aber eher, er tappt auch noch im Dunkeln.
Kapitel 2
Nachdem die Leiche ‘menschenwürdig’ wiederhergestellt worden war und der Gerichtsmediziner auch das Loch im Kopf, im Schläfenbereich, mit viel Geschick und plastisch-chirurgischem Können verschlossen hatte, identifizierte der Wirt schließlich bei der ‘Gegenüberstellung’, wie paradox, die in der Zinkwanne liegende Person als den Gast Daniel Herrmann Wong.
Papiere wurden bei dem Toten nicht gefunden und auch die Durchsuchung des Zimmers, in dem die zu identifizierende Person seit zehn Tagen gewohnt hatte, jedenfalls zwischen irgendwann nach zwanzig Uhr und sechs Uhr morgens geschlafen hatte, ergaben keine sicheren Hinweise auf Namen, Herkunft, Alter und andere Angaben, die sich in einem ordentlich geführten Polizeiprotokoll wiederzufinden haben.