Stefan Zweig

Marie Antoinette


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einen Triumph, der zu sichtbar ihren künftigen Rang zeigen würde. Jede Woche, jeden Monat erfindet die Kamarilla ein anderes Hindernis, einen anderen Vorwand, und so vergehen sechs Monate, zwölf Monate, vierundzwanzig Monate, sechsunddreißig Monate, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre, und noch immer bleibt Marie Antoinette hinter den goldenen Gittern von Versailles eingesperrt. Endlich, im Mai 1773, verliert Marie Antoinette die Geduld und geht zum offenen Angriff über. Da die Zeremonienmeister immer wieder bedenklich die Puderperücken zu ihrem Wunsche schütteln, meldet sie sich bei Ludwig XV. Der findet an solcher Bitte nichts Absonderliches und, schwach gegen alle hübschen Frauen, sagt er der scharmanten Gemahlin seines Enkels zum Ärger der ganzen Clique sofort ja und amen. Er stellt ihr sogar frei, den Tag des festlichen Einzuges selbst zu wählen.

      Marie Antoinette wählt den achten Juni. Aber nun, da ihr der König endgültig die Erlaubnis gegeben hat, macht es der Übermütigen Spaß, dem verhaßten Palastreglement, das sie drei Jahre lang von Paris abgesperrt hat, noch heimlich einen Streich zu spielen. Und so wie manchmal verliebte Brautleute, ohne daß die Familie es ahnt, die zärtliche Nacht noch vor dem priesterlichen Segen vorwegnehmen, um dem Genuß den Reiz des Verbotenen hinzuzutun, so überredet Marie Antoinette ihren Gatten und ihren Schwager, knapp vor dem öffentlichen Einzug in Paris einen heimlichen Besuch zu machen. Ein paar Wochen vor der »joyeuse entrée« lassen sie spät abends die Karossen anschirren und fahren verlarvt und verkleidet auf den Opernball in das Mekka Paris, in die verbotene Stadt. Und da sie am nächsten Morgen höchst ordentlich bei der Frühmesse erscheinen, bleibt dieses unerlaubte Abenteuer völlig unentdeckt. Es gibt kein Ärgernis, und doch hat Marie Antoinette glücklich an der verhaßten Etikette ihre erste Rache genommen.

      Um so mächtiger wirkt, nachdem sie an der paradiesischen Frucht Paris schon heimlich genascht hat, der öffentliche feierliche Einzug. Nach dem König von Frankreich gibt auch der König des Himmels seine feierliche Zustimmung: dieser achte Juni wird ein wolkenlos strahlender Sommertag, der unübersehbare Volksmengen als Zuschauer heranlockt. Die ganze Straße von Versailles nach Paris verwandelt sich in eine einzige, brausende, hüteschwenkende, von Fahnen und Blumengewinden farbig durchflochtene Menschenhecke. An dem Stadttor erwartet der Marschall von Brissac, der Gouverneur der Stadt, die festliche Karosse, um den friedlichen Eroberern auf silberner Platte die Schlüssel respektvoll zu überreichen. Dann kommen die Frauen der Halle, heute feierlich angetan (wie anders werden sie später Marie Antoinette bewillkommnen!), und bieten die Erstlinge des Jahres, Früchte und Blumen, mit dynastischen Sprüchen dar. Dazu donnern die Kanonen des Invalidenpalastes, des Stadthauses und der Bastille. Langsam fährt die Hofkarosse weiter durch die ganze Stadt, den Kai der Tuilerien entlang bis zu Notre-Dame; überall, im Dom, in den Klöstern, an der Universität, werden sie mit Ansprachen empfangen, sie fahren durch eigens erbaute Triumphbogen und an Wäldern von Fahnen vorbei, aber die herrlichste Begrüßung erwartet die beiden vom Volke. Zu Zehntausenden, zu Hunderttausenden sind aus allen Straßen der riesigen Stadt die Menschen zusammengeströmt, um das junge Paar zu sehen, und der Anblick dieser unverhofft entzückenden und entzückten Frau erregt namenlosen Enthusiasmus. Man applaudiert, man jauchzt, man schwenkt Tücher und Hüte; Kinder, Frauen drängen heran, und wie Marie Antoinette vom Balkon der Tuilerien die unübersehbaren Wogen des begeisterten Menschenheeres sieht, erschrickt sie beinahe: »Mein Gott, wie viele Menschen!« Aber da verbeugt sich an ihrer Seite der Marschall von Brissac und antwortet mit echt französischer Galanterie: »Madame, es möge Seiner Hoheit dem Dauphin nicht mißfallen, aber Sie sehen hier zweihunderttausend Menschen, die in Sie verliebt sind.«

      Der Eindruck dieser ersten Begegnung Marie Antoinettes mit dem Volk ist ungeheuer. Von Natur aus wenig nachdenklich, aber mit rascher Auffassung begabt, begreift sie alle Geschehnisse immer nur vom unmittelbaren persönlichen Eindruck, von der sinnlichen, von der augenfälligen Anschauung her. Erst in diesen Minuten, da, unübersehbar, ein riesiger lebendiger Wald mit Fahnen und Schreien und Hüteschwenken, die namenlose Masse mit warmer Welle zu ihr emporbraust, erahnt sie zum erstenmal Glanz und Größe der Stellung, zu der das Schicksal sie erhoben hat. Bisher hat man sie in Versailles mit »Madame la Dauphine« angesprochen, aber das war nur ein Titel gewesen unter tausend anderen Titeln, eine obere starre Rangstufe innerhalb der unendlichen Adelstreppe, ein leeres Wort, ein kalter Begriff. Nun begreift Marie Antoinette zum erstenmal sinnlich den feurigen Sinn und die stolze Verheißung, die diesem Wort »Thronfolgerin von Frankreich« innewohnt. Erschüttert schreibt sie ihrer Mutter: »Letzten Dienstag habe ich ein Fest erlebt, das ich nie in meinem Leben vergessen werde: unsern Einzug in Paris. An Ehrungen haben wir alle empfangen, die man sich nur ausdenken kann, aber dies war es nicht, was mich am tiefsten ergriffen hat, sondern die Zärtlichkeit und Leidenschaft des armen Volkes, das trotz der Steuern, mit denen es bedrückt ist, von Freude durchdrungen war, uns zu sehen. Im Tuileriengarten war eine so ungeheure Menge, daß wir drei Viertelstunden weder vor- noch rückwärts konnten, und auf dem Rückweg von diesem Spaziergang sind wir dann noch eine halbe Stunde auf einer offenen Terrasse geblieben. Ich kann Dir, meine teure Mutter, nicht die Ausbrüche der Liebe und Freude schildern, die man uns in diesem Augenblick bezeugte. Ehe wir uns zurückzogen, haben wir noch mit der Hand das Volk gegrüßt, das darob große Freude hatte. Wie glücklich ist man doch in unserm Stand, daß man die Freundschaft so leicht gewinnen kann. Und doch gibt es nichts Kostbareres, ich habe das wohl gefühlt und werde es nie vergessen.«

      Das sind die ersten wahrhaft persönlichen Worte, die man in den Briefen Marie Antoinettes an ihre Mutter vernimmt. Starken Eindrücken ist ihre leicht bewegliche Natur sofort zugänglich, und die schöne Erschütterung über diese durch nichts verdiente und doch so stürmisch andrängende Liebe des Volkes erregt in ihr ein dankbares, ein großmütiges Gefühl. Aber rasch in der Auffassung, ist Marie Antoinette auch rasch im Vergessen. Nach ein paar weiteren Besuchen nimmt sie diesen Jubel schon als selbstverständliche Huldigung, als ein ihrem Rang und ihrer Stellung Zugehöriges, und freut sich daran so kindlich und unbedacht, wie sie alle Geschenke des Lebens hinnimmt. Wunderbar erscheint es ihr, sich von dieser warmen Masse umbrausen, wunderbar, sich von diesem unbekannten Volk lieben zu lassen: fortan genießt sie diese Liebe der zwanzig Millionen als ihr Recht, ohne zu ahnen, daß Recht auch verpflichtet und daß auch die reinste Liebe endlich müde wird, wenn sie sich nicht vergolten fühlt.

      Mit ihrer ersten Reise schon hat Marie Antoinette Paris erobert. Aber gleichzeitig erobert auch Paris Marie Antoinette. Von diesem Tage an ist sie dieser Stadt verfallen. Oft, und bald allzuoft, fährt sie in die verlockende, in die an Vergnügungen unerschöpfliche Stadt; bald in fürstlichem Aufzug mit allen ihren Hofdamen bei Tag, bald wieder nachts mit kleinem intimem Gefolge, um die Theater, die Bälle zu besuchen und sich privat auf verfängliche oder auch unverfängliche Art auszutollen. Jetzt erst, da sie sich losgekoppelt hat von der gleichförmigen Tageseinteilung des Hofkalenders, wird dieses Halbkind, dieses wilde Mädchen gewahr, wie gräßlich langweilig doch der hundertfenstrige Marmor- und Steinkasten von Versailles mit seinen Hofknicksen und Kabalen und seinen steifleinenen Festen, wie mopsig diese mokanten und muffigen Tanten gewesen, mit denen sie morgens bei der Messe und abends beim Strickstrumpf sitzen mußte. Gespenstig mumienhaft und künstlich scheint ihr diese ganze Courhalterei ohne Heiterkeit und Freiheit mit den gräßlich gespreizten Attitüden, dieses ewige Menuett mit den ewig gleichen Figuren, denselben abgezirkelten Bewegungen und dem immer gleichen Entsetzen bei dem geringsten Fauxpas im Vergleich zu der ungezwungen flutenden Lebensfülle von Paris. Ihr ist, als sei sie aus einem Treibhaus in freie Luft entronnen. Hier, im Gewirr der Riesenstadt, kann man verschwinden und untertauchen, dem unerbittlichen Uhrzeiger der Tageseinteilung entrinnen und mit dem Zufall spielen, hier kann man sich selber leben und genießen, indessen man dort nur für den Spiegel lebt. So rollt jetzt regelmäßig zweimal, dreimal in der Woche eine Karosse mit heiter geschmückten Frauen nachts nach Paris, um erst im Morgengrauen wieder heimzukehren.

      Aber was sieht Marie Antoinette von Paris? In den ersten Tagen besichtigt sie aus Neugier noch allerhand Sehenswürdigkeiten, die Museen, die großen Geschäfte, sie besucht ein Volksfest und einmal sogar eine Gemäldeausstellung. Aber damit ist für die nächsten zwanzig Jahre ihr Bildungsbedürfnis innerhalb von Paris vollkommen erschöpft. Sonst widmet sie sich ausschließlich den Stätten der Unterhaltung, sie fährt regelmäßig in die Oper, die französische Comédie, die italienische Commedia, auf Bälle, Redouten, sie besucht die Spielsäle, also genau das »Paris at night, Paris city of pleasure« der reichen Amerikanerinnen von heute. Am meisten