Stil (vgl. dazu auch Kapitel 2.1.3).
À vous !
Was haben die Begriffe Röntgenstrahlen, pasteurisieren und Ampere gemeinsam?
Wenn Theorien also keine reinen Spekulationen sind, könnte man sich fragen, ob denn zum Beispiel mittlerweile bewiesen ist, dass die Relativitätstheorie wahr ist. Das ist aber nicht möglich. Beweise gibt es nur in der Mathematik, nicht in empirischen Wissenschaften. Empirisch kann man Hypothesen nach dem Wissenschaftstheoretiker Karl Popper (1902–1994) nur falsifizieren und nicht verifizieren (vgl. POPPER 1935). Nehmen wir die Hypothese „Alle Schwäne sind weiß.“. Wenn man sein Leben lang nur weiße Schwäne sieht, erhärtet sich diese Hypothese immer mehr. Findet man einen schwarzen Schwan, dann ist sie falsifiziert. Entsprechend können sich Theorien auch nur bewähren oder als mehr oder weniger fruchtbar erweisen, nicht jedoch als wahr. Niemand hat die Möglichkeit, alle Schwäne anzusehen, die es gibt, jemals gab und geben wird. Eine Theorie muss also immer so operationalisierbar sein, dass man sie empirisch überprüfen kann.
Was macht nun eine gute Theorie aus? Sie…
…ist einfach formuliert,
…ist in sich widerspruchsfrei,
…erklärt viel,
…befriedigt die Neugier der Menschen und/oder bringt praktischen Nutzen.
In der Realität finden sich natürlich auch kompliziert formulierte und nutzlose Theorien. Sie gelten dennoch als wissenschaftlich, wenn sie von Wissenschaftler*innen verfasst sind. Damit kommen wir zur zweiten Perspektive auf die Wissenschaft: der wissenschaftssoziologischen Perspektive.
2.1.2 Wissenschaft als soziales System
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ – so lautet vereinfacht ein berühmtes Zitat von Aristoteles (384–322 v. Chr.).1 Entsprechend bestehen nach der Systemtheorie soziale Systeme nicht aus Menschen, sondern aus deren sozialen Rollen, mit denen sie im jeweiligen System handeln (z. B. Marie Curie als Wissenschaftlerin, als Ausländerin, als Mutter). Systeme grenzen sich nach außen gegenüber ihrer Umwelt ab (z. B. die Wissenschaft von der Gesellschaft) und bestehen innerlich wiederum aus Subsystemen (z. B. Universitäten, Fachzeitschriften). Das System Wissenschaft kann eine Zeitlang stabil funktionieren, aber auch gelegentlich durch sogenannte ‘wissenschaftliche Revolutionen’ umgestürzt werden. All diese Aspekte des Systems Wissenschaft schauen wir uns im Folgenden genauer an.
Wissenschaftler*innen
Dem Klischee nach sind Menschen, die in der Wissenschaft arbeiten, verrückte Genies: von Professor Higgins im Musical My Fair Lady (1956) über ‘Doc’ Brown im Film Zurück in die Zukunft (1985–1990) bis Sheldon Cooper in der Serie The Big Bang Theory (2007–2019). Oft sind es alte bärtige Männer in weißen Kitteln, die in den Naturwissenschaften mit gefährlichen Instrumenten und Substanzen arbeiten. Ihre Ideen sind unerwartete Geistesblitze: Der griechische Mathematiker Archimedes (ca. 287–212 v. Chr.) nahm der Legende nach ein Bad, als ihm seine wichtigste Erkenntnis kam. Als er in die Wanne stieg, lief genau das Volumen an Wasser über, das er mit seinem Körper verdrängte. Dies brachte ihn dazu, den Zusammenhang zwischen dem Gewicht schwimmender Körper und ihrem Auftrieb zu entdecken. Angeblich soll er überglücklich nackt auf die Straße gelaufen sein und „Heureka!“ gerufen haben: ‘Ich habe es gefunden!’.
Jede*r Wissenschaftler*in wird bestätigen, dass man nach langem Lesen und Auswertungen oft in einer Sackgasse landet und sich der ‘Knoten im Hirn’ oft erst löst, wenn man etwas ganz anderes tut. Damit wissenschaftliches Wissen entsteht, reicht jedoch die Kreativität einzelner Persönlichkeiten nicht aus. Wissenschaft ist ein Subsystem der Gesellschaft und besteht selbst aus einer Vielfalt von Institutionen und sozialen Rollen.
Wissenschaft in der Gesellschaft
Aufgrund ihrer Bedeutung für die Demokratie steht die Wissenschaft in Deutschland unter besonderem Schutz. Die Freiheit von Forschung und Wissenschaft sind Grundrechte:
Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. (DEUTSCHES GRUNDGESETZ, Art. 5.3)
Professor*innen haben auch ein relativ gutes Ansehen in der Gesellschaft – weit besser als Lehrer*innen (Studienrät*innen in Abb. 2.3), Journalist*innen und Politiker*innen, aber deutlich hinter den Menschen, die Leben retten, sei es bei der Feuerwehr, im Krankenhaus oder bei der Polizei (vgl. Abb. 2.3).
Image von Berufsgruppen in Deutschland (forsa 2019).2
Über die Rolle, die Wissenschaftler*innen in der Gesellschaft spielen sollten, herrscht allerdings kein Konsens: Manche fordern eine größere Präsenz von Wissenschaftler*innen in der öffentlichen Diskussion und sähen Wissenschaft sogar gerne als ‘Fünfte Gewalt’. Andere befürchten, dass eine Vermischung der Rollen die Qualität der Wissenschaft, aber auch die Demokratie beeinträchtigen könnte. Natürlich sind Wissenschaftler*innen in erster Linie Wissenschaftler*innen und keine Journalist*innen oder Politiker*innen. Dennoch wird derzeit an den Universitäten die sogenannte Third Mission immer wichtiger: Neben ihren ersten beiden ‘Missionen’ – Forschung und Lehre – sollen sich Wissenschaftler*innen auch dem Wissenstransfer in Gesellschaft und Industrie widmen.
Wissenschaftliche Institutionen und Rollen
Neben dieser Interaktion zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen Wissenschaft, Massenmedien und Politik interessiert sich die Wissenschaftssoziologie auch für das interne Funktionieren des Teilsystems Wissenschaft selbst. Zu diesem System gehören natürlich die Wissenschaftler*innen – in ihren Rollen als Professor*innen oder Doktorand*innen, als Laborleiter*innen oder Lehrende, als Autor*innen und Gutachter*innen etc. Es beinhaltet auch wissenschaftliche Institutionen wie Universitäten und andere Forschungseinrichtungen, Förderinstitutionen, Fachverbände, Kongresse und Fachzeitschriften.
À vous !
Recherchieren Sie im Internet: Welche Universitäten sind die ältesten Europas?
Während Universitäten lokal verankert sind, haben für die internationale Forschung die Fachzeitschriften eine zentrale Bedeutung. Zu diesen Publikationsorganen gehört jeweils ein Team von Herausgeber*innen, die Gutachter*innen anfragen, um im Rahmen eines peer review-Verfahrens (‘Begutachtung unter Gleichrangigen’) die Qualität der eingereichten Artikel zu kontrollieren. Damit dies möglichst objektiv geschieht, erfahren die Gutachter*innen nicht die Namen der Autor*innen und die Autor*innen nicht die Namen der Gutachter*innen (double blind peer review). Artikel können entweder komplett angenommen (accepted) oder abgelehnt (rejected) werden, oder aber die Gutachter*innen fordern mehr oder weniger umfangreiche Überarbeitungen ein (major oder minor revisions). Dadurch kann es bis zu mehreren Jahren dauern, bis ein Artikel publiziert wird. In vielen Disziplinen erscheinen daher zunächst Vorversionen der Artikel auf sogenannten preprint-Servern, um technischen oder medizinischen Fortschritt schneller voranzutreiben. Damit Forschungsergebnisse weltweit diskutiert werden können, setzt sich mittlerweile auch in der Sprachwissenschaft zunehmend die Weltsprache Englisch als Wissenschaftssprache durch (vor einem Jahrhundert dominierten noch Deutsch und Französisch). Ein weiterer aktueller Trend ist, dass die Artikel wie auch die dazugehörigen Daten der Forschungsgemeinschaft kostenlos zur Verfügung gestellt werden (open access).
Die peer review-Praxis hat allerdings auch Nachteile. So führt die Kontrolle durch die scientific community dazu, dass Forscher*innen im mainstream bleiben,