Lass sie rechtzeitig da sein, betete Saomai stumm und schloss die Augen.
Im nächsten Moment brachte Tuk den Daihatsu mit einer Vollbremsung zum Stehen. Sie hatten den Tempel erreicht und parkten mitten auf der Straße. Saomai sprang heraus und lief suchend auf das verwilderte Gelände zu. Dass sie ihren schmerzenden Fuß mehr mit sich zog, als dass er sie trug, bemerkte sie kaum. Zu groß war ihre Sorge um Neill. Wenn ihm etwas zugestoßen war, würde sie nicht mehr froh werden, das wusste sie. Wieso habe ich ihn nur hierher gebracht, fragte sie sich vorwurfsvoll. Er hat doch diesen Kerlen nichts entgegenzusetzen! Tränen rannen über ihre Wangen, als sie die Hände zu einem Trichter formte und seinen Namen schrie. Immer und immer wieder. „Neill, Neill. Bist du hier?“
Sie unterdrückte ein Schluchzen, um erneut nach ihm zu rufen.
Da sah sie ihn. Er kauerte auf der untersten Steintreppe des ehemaligen Tempels. Mit dem Rücken lehnte er gegen eine schrägstehende Säule, die zwischen eingestürzten Mauern klemmte. Seine Arme hingen schlaff herab, die Augen waren geschlossen. Saomais Atem stockte, da sie nicht erkennen konnte, ob er noch lebte. Eine kalte Hand griff nach ihrem Herzen, als sie noch einmal mit zittriger Stimme Neills Namen rief. Erst geschah nichts. Aus dieser Entfernung musste er sie doch gehört haben! Dann öffnete er die Augen, blinzelte und hob müde den Kopf.
Er lebt, dachte Saomai. Er lebt!
So schnell sie konnte, humpelte sie auf den Tempel zu. Beim Näherkommen entdeckte sie blutige Striemen in Neills Gesicht, seine Leinenhose war dunkel vor Dreck und rostbraune Blutflecken tränkten sein Shirt. Aber egal. Er lebte! Saomai schleppte sich die letzten Meter zu ihm und warf sich in Neills Schoß. Sie zitterte am ganzen Leib und brachte keinen Ton hervor. Sie hielt Neill umklammert und dankte den Göttern, dass sie ihn verschont hatten. Nach einer Weile hob sie den Kopf und sah unsicher zu ihm auf. Neill hatte sich kaum geregt und sagte nichts. Jetzt bemerkte sie, dass sein Blick ins Leere ging.
„Neill, ist alles in Ordnung?“, fragte Saomai ängstlich.
Vielleicht war er doch verletzt, hatte innere Blutungen. Die Ärztin in ihr erwachte und begann mit fahrigen Händen, seinen Brustkorb abzutasten.
„Tut das weh?“, fragte sie, als sie die Bauchdecke abklopfte.
„Nein.“
Neill nahm ihre Hände und hielt sie kraftlos in seinen.
„Ich bin ok“, sagte er mit schleppender Stimme. „Ist nicht so schlimm.“
Von seiner linken Hand troff Blut. Saomai drehte sie um. Ein tiefer Schnitt zog sich vom Zeigefinger bis zum Handgelenk. Erst jetzt bemerkte Saomai den großen feuchtschimmernden Fleck auf dem Steinquader neben ihm. Deshalb war er so lethagisch.
Ich muss den Blutfluss stoppen, dachte sie.
Verzweifelt sah sie an sich herunter, suchte etwas, das sich zum Abbinden der klaffenden Wunde eignete. Ihre verdreckte Shorts würde sich kaum zerreißen lassen. Also musste ihr T-Shirt herhalten. Sie sprang auf, um es sich über den Kopf zu ziehen, als Tuk mit fünf jungen Männern im Schlepptau auftauchte.
„Ist er verletzt?“, rief die Krankenschwester schon von weitem.
„Ja.“ Und als sie näher kamen: „Ich brauche einen Druckverband.“
Tuk wühlte in dem großen Lederbeutel, der an ihrer Schulter hing und zog Sekunden später eine Mullbinde hervor. Triumphierend hielt sie sie Saomai entgegen, griff erneut in ihre Handtasche und kramte eine weitere hervor.
„Taataa“, sagte sie stolz, „alles da für einen perfekten Druckverband!“
Sie lachte. Ein Lächeln machte sich auch in Saomais erschöpftem Gesicht breit. Dann fiel ihr etwas ein.
„Wo sind denn diese Typen eigentlich hin?“, fragte sie in die Runde.
Ein hübscher Kerl von etwa fünfundzwanzig Jahren trat hervor. Schüchtern sah er Saomai an. Tuk musste erzählt haben, dass sie Ärztin war, sonst hätte er vor seinen Freunden sicher ein anderes Auftreten an den Tag gelegt, das sah Saomai in seinen stolzen Augen.
„Wir kamen zufällig den Weg vom Fluß entlang und haben gesehen, wie ein Mann verfolgt wurde. Das war kurz bevor Tuk angerufen hat.“
Mit einem anerkennenden Blick auf Neill fuhr er fort: „Er hat sich ganz gut selbst verteidigt. Für einen aus dem Business District.“
Die Menschen hier sahen sofort, woher einer kam, das war Soamai klar. Neills Kleidung, seine Haltung, allein sein Haarschnitt verrieten jedem Thailänder, in welchem Viertel Bangkoks er lebte. Aber was hatte der Junge gesagt? Neill hatte sich selbst verteidigt? Ungläubig sah sie ihn an, während sie geschickt seine Hand verband. Neill schien das Geschehen nur noch benommen wahrzunehmen.
„Tuk“, fragte Saomai, als sie fertig war, „können wir ihn in deinem Auto zum Krankenhaus bringen?“
In Saomai nagte ein Verdacht. Kaum, dass Neill versorgt und in einen heilsamen Schlaf gefallen war, rief sie Tuk zu sich.
„Dr. Saomai, Sie müssen sich jetzt auch untersuchen lassen“, begann die Krankenschwester mit einem besorgten Blick auf Saomais Blessuren an Händen und Knien. „Besonders Ihren schlimmen Fuß!“, setzte sie nach.
Auf dem kurzen Weg vom Tempel zum Auto hatte sie Saomai gestützt, die bei jedem Schritt vor Schmerzen gestöhnt hatte.
„Später, Tuk“, sagte Saomai ungeduldig. „Vorher muss ich noch einmal mit deinen Brüdern sprechen.“
„Warum denn das?“, fragte die kleine Thai überrascht.
„Es hat mit diesen Männern zu tun. Ich möchte wissen, ob deinen Brüdern etwas an ihnen aufgefallen ist.“
„Gut, dann lasse ich sie herkommen. Aber in der Zwischenzeit gehen Sie zu Dr. Nadee!“, beharrte Tuk. „Er hat darauf bestanden, sie persönlich zu verarzten.“
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