June A. Miller

SAOMAI


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ich begriffen, dass es eine Pistole war. Die Situation kam mir so unheimlich vor, dass ich blind vor Sorge loslief. Im selben Augenblick sprangen sie in ein Auto. So ein schwerer Geländewagen. Der Motor muss die ganze Zeit gelaufen sein, sonst hätten sie nicht so schnell losfahren können“, sie schluckte schwer, „und ich wäre nicht in das Auto gerannt.“

      Bei der Erinnerung an den Aufprall fröstelte sie trotz der tropischen Nachthitze. Die feine Narbe über ihrem linken Auge zuckte.

      „Mein rechter Fuß kam unter den Reifen und mit dem Gesicht schlug ich gegen die Fahrertür.“

      Chandra sah sie entsetzt an.

      „Und dann?“, fragte sie behutsam, weil sie spürte, dass Saomai die Geschichte trotz aller Qual zu Ende erzählen musste.

      Der Kellner brachte ihre Getränke. Saomai nahm einen Schluck Martini, bevor sie weitersprach.

      „Ich war wohl bewusstlos. Jedenfalls standen Menschen um mich herum, als ich zu mir kam. Ich zeigte auf unser Haus und rief: „Mein Vater! Mein Vater!“, aber die Leute verstanden nicht, was ich meinte. Sie dachten wohl, ich hätte einen Schock. Ich wollte aufstehen, aber mein Fuß... Die Schmerzen habe ich gar nicht gespürt. Ich konnte nur einfach nicht stehen. Eine Frau hielt mich schließlich am Boden fest und sagte, der Krankenwagen sei unterwegs. Erst als meine Kollegen eintrafen, hat mir endlich jemand zugehört.“

      „Oh Gott, wie furchtbar!“, rief Chandra voller Mitgefühl.

      „Ja, zumal das wichtige Minuten waren.“

      Saomais Stimme verebbte zu einem Flüstern. „Mein Vater ist nicht an den Schüssen in seinen Rücken gestorben. Er ist daran verblutet!“

      Tränen rannen über ihr schönes Gesicht. Auch Chandra konnte ihre nicht zurückhalten. Schweigend saßen sie da und hielten einander an den Händen.

      „Ist“, Chandra korrigierte sich, „sind die Täter gefasst worden?

      „Nein.“

      „Hast du die Männer denn nicht beschreiben können? Es gab doch bestimmt Verdächtige, eine Gegenüberstellung?“

      „Ich hab‘ der Polizei sehr konkrete Hinweise gegeben“, sagte Saomai und ihre schwarzen Augen blitzten, „sie haben sie ignoriert.“

      „Wieso ignoriert?“ Chandra konnte nicht glauben, was sie da hörte.

      „Mein Vater hatte Morddrohungen erhalten und es war klar, von wem die kamen. Ein Immobilienhai, der sich schon das halbe Altstadtviertel unter den Nagel gerissen hatte, und dem nur noch das Krankenhaus fehlte, setzte uns zu.“

      Chandra sah sie fragend an.

      „Mein Pa war Direktor des Memorial Hospitals, in dem ich die Kinderstation leite. Die städtische Verwaltung gab viel auf seine Meinung. Er sprach sich gegen den Verkauf, und damit den Abriss des Krankenhauses aus, und sie folgten seinem Rat.“

      „Wie mutig von deinem Vater. Ich meine, eine Morddrohung ignoriert man ja nicht einfach!“

      „Wir waren natürlich besorgt deshalb. Trotzdem waren wir uns einig, nicht nachzugeben. Du kennst das Viertel – es ist noch so ursprünglich. Das darf nicht einfach platt gemacht werden! In unsere Klinik kommen viele Arme, die woanders nicht behandelt werden. Daraus wollen die eine Wellness-Farm machen!“

      Saomai hatte sich in Rage geredet. Etwas ruhiger fuhr sie fort: „Das ganze Bauprojekt hing wohl an dem Krankenhaus. Und damit am Widerstand meines Vaters.“

      Chandra sah sie eindringlich an. „Wenn es diese Drohungen gab, ist die Polizei denen doch bestimmt nachgegangen?“

      Saomai wurde starr und drückte den Rücken durch.

      „Lass uns von etwas anderem sprechen, o.k.?“

      „Ja“, antwortete Chandra überrascht, „natürlich.“

      „Erzähl mir von deinem Massage-Salon“, bat Saomai. „Wie läuft das Geschäft?“

      Ihre Studienfreundin hatte sich vor eineinhalb Jahren aus der Medizin verabschiedet, um endlich Geld zu verdienen, wie sie spaßeshalber sagte.

      „Sehr gut“, begann Chandra zögernd. Dann ließ sie sich auf den Themenwechsel ein. „Die Miete ist zwar horrend, aber das ist nun mal so im Business District. Dafür gibt es dort ein zahlungswilliges Klientel.“

      Sie rieb Zeigefinger und Daumen der rechten Hand aneinander und grinste.

      „Seit der Eröffnung vom ‚Delight Massage Club‘ habe ich 20 neue Thai-Masseurinnen eingestellt und schon dreimal neue Räume hinzugemietet.“

      „Dann musst du gar nicht mehr selbst ran?“, fragte Saomai lachend.

      Sie hatte ihre Freundin anfangs damit geneckt, dass Männer in einem Club mit diesem Namen wohl mehr erwarteten, als ‚nur‘ eine Massage.

      „Nein“, Chandra lachte ebenfalls, „ich manage nur noch. Und was das angeht, gibt es eine klare Regel bei uns: no happy ending!“

      „Das ist gut“, gab Saomai zurück. Sie behandelte fast täglich Thaimädchen und -jungen, oft noch Kinder, die von Freiern missbraucht wurden, und war froh zu hören, dass Chandra so etwas nicht duldete.

      „Ich habe übrigens ziemlich prominentes Publikum“, erklärte ihre Freundin stolz.

      „Echt? Erzähl!“

      „Den Innenminister zum Beispiel und ein paar Abkömmlinge der Königsfamilie.“

      „Wow!“ Saomai war ehrlich beeindruckt. Sie überlegte kurz. „Deine Klientel tummelt sich bestimmt auch in Nobelclubs wie diesem, oder?“

      Chandra sah sich suchend auf der Dachterrasse um und nickte.

      „Siehst du da hinten das indische Paar?“ Sie deutete mit dem Kinn nach links. „Er ist Schauspieler und in Indien eine Berühmtheit. Kommt fast jede Woche zur Massage.“

      Saomai reckte den Hals.

      „Oder die zwei Männer an dem Tisch vor der Bar.“

      Chandra zeigte in die entgegengesetzte Richtung.

      „Der Linke, das ist Neill Ferguson, stinkreich. Ihm gehört das Penthouse über meinem Club. Hat jeden Dienstag und Donnerstag einen festen Termin.“

      Saomai hatte aufgehorcht, als der Name fiel. Neill Ferguson war der größte Baulöwe der Stadt. Und, wie sie aus der Presse wusste, ein Geschäftspartner des Mannes, den sie für den Mörder ihres Vaters hielt. Sie machte Ferguson an einem der Tische vor der illuminierten Bar aus. Neugierig musterte Saomai ihn. Das kantige Kinn ließ auf Amerikaner tippen. Dabei war er Norweger, wie sie gelesen hatte. Sein Haar trug er leicht nach hinten gegelt. Wohl um die Locken zu bändigen, die ihm dennoch zurück in die Stirn fielen. Besonders auffallend waren seine breiten Schultern. Vielleicht war er Schwimmer. Oder Rugby-Spieler? Er wirkte zurückhaltend, sprach ohne übertriebene Geste mit seinem Gegenüber. Mehr konnte Saomai von ihrem Platz aus nicht erkennen. Es war merkwürdig, Ferguson in natura zu sehen. Saomai hatte in den letzten Monaten jeden Zeitungsbericht über ihn und seinen Partner verschlungen, ausgeschnitten, abgeheftet.

      Die Erinnerung an die Geschehnisse vor einem Jahr krampfte ihr den Magen zusammen. Sie schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper.

      „Saomai, ist alles in Ordnung?“

      „Ja, geht schon“, wehrte sie ab.

      Dann kam ihr ein Gedanke, der sie kerzengerade werden ließ.

      „Du kennst nicht zufällig einen Lamom Benjawan?“

      ****

      „Chandra? Hi, hier ist Saomai.“

      „Hallo meine Liebe. Schön, dass du anrufst! Bist du gut nach Haus gekommen?“

      „Ja, danke. Alles bestens“, log Saomai.

      Tatsächlich fühlte sie sich elend. Sie hatte den Cocktail